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cotopaxi

 
Rauchen ist out. Gesellschaftlich diskreditiert. Fein.

Über Jahre drängten sich Schüler und -innen in unwirtliche Verstecke zwischen Keller und WC, um hinter den Rücken der aufsichtspflichtigen Lehrpersonen ihre Kippen zu paffen. Jahre lang haben wir geredet und gewarnt, verwarnt und geredet. Alles für die Katz', die Jugendlichen haben uns ignoriert und fröhlich weitergeraucht.

Warum?

Es war gesellschaftlich akzeptiert. Rauchen war cool, viele Vorbilder in den Medien und Peergroups taten es und demonstrierten damit Positives zwischen Entspannung und Geselligkeit. Der harte Cowboy und die moderne Emanzipierte rauchten. Die Kinder auch.

Viele Jugendliche rauchen immer noch. In den Pubs der Stadt, bei ihren Parties und diversen Treffen. In der Schule haben wir keine Probleme mehr damit. Keine Klos sind verraucht, keine Gänge angeschwärzt. Der blaue Dunst hat an Attraktivität verloren, nur Unsicherheit und Gewohnheit lassen weiter zum Glimmstengel greifen, das Positive ist verflogen. Geächtet.

Deswegen hoffe ich, dass wir eines Tages auch das Alkoholproblem in den Griff bekommen. Momentan nicht.

Eine Liste liegt in der Klasse:

Wer kommt zur nächsten Party ?
(Namen, geordnet nach Machos und Pussys)?

Und was nehmt ihr mit?
- 1 Palette (Bier muss man nicht dazuschreiben, das weiß jeder)
- Klopfer
- Jägermeister
- Wodka
... NUR Alkohol.

Ich frage: "Könnt ihr euch eine Party ohne Alk vorstellen?"
(Anm.: Alk klingt cooler als Alkohol, yoo!)
Antwort: "Das ist ein Widerspruch in sich, Herr Professor."
"Ein Paradoxon!", ergänzt ein Schlauer.

Alkohol ist cool und akzeptiert. Da kann Schule tun was sie will.

Kollege H. geht beschwingt über den Gang.
"Du schaust ja ziemlich entspannt aus", hänge ich meiner Begrüßung an.
"Gar nicht", erwidert er, "ich falle am Abend totmüde ins Bett ... und bin am nächsten Morgen noch immer komplett fertig."
"Und du schläfst durch?"
"Total. Aber ich stehe wie gerädert auf."

Soweit zu meiner Menschenkenntnis, ich habe mich total geirrt in meiner körpersprachlichen Interpretation.

"Und ich halte keinen Lärm aus", setzt H. fort.
"Naja, wir werden älter."
"Bei mir wird es richtig schlimm, ich drehe schon das Radio ab. In der Früh, im Auto ... ich brauche Ruhe."
Das gibt es in der Schule nicht.
"Da wird dir das nächste Jahr gut tun."

H. hat um ein Sabbatical angesucht - ein unbezahltes Freijahr.
Er braucht es.
Ich überlege auch. Ernsthaft.
Aber die Chancen auf Genehmigung stehen schlecht - es gibt zu wenig Lehrer im Land.

Der 13-jährige Armin ist ein Fliegengewicht in jeder Hinsicht. Zart gebaut und zärtlich erzogen.

Als ich gestern in die Klasse kam, war Armin bereits beim Schularzt. Der wesentlich stärkere und aggressivere Bert hatte mit dem Fuß gegen ihn getreten und seine linke Hand verletzt. Der schmächtige Armin hat es aufgeben, bei den Lehrern Hilfe zu suchen. Er hat schnell gelernt, dass dabei für ihn nichts rausschaut.
"Die reden nur."

Der Schularzt hilft, der tut was. Er untersucht die schmerzende Hand und kühlt sie mit feuchten Umschlägen. Er notiert sich die Daten und informiert den Direktor, notfalls geht auch eine Anzeige zur Polizei. Körperverletzung ist ein Delikt und muss angezeigt werden.

Zehn Minuten später steht die Direktorin in der Tür und lässt die Streitparteien berichten. Sie tadelt den Übeltäter und fordert mich auf, den Vorfall im Klassenbuch zu dokumentieren. Typisch Pädagogen, sie reden und schreiben. Das beeindruckt Bert seit Jahren nicht, er klappt bloß die Ohren zu. Deswegen geht Armin lieber gleich zum Doktor.
"Der tut was."

P.S.: Wenn die Lehrergewerkschaft mehr handfeste Sanktionen ("Strafen") für disziplinlose Schüler fordert und die Ministerin das kategorisch ablehnt, dann denke ich an Armin.

ICH brauche die Strafen nicht, IHN würden sie schützen. ICH könnte etwas TUN, für IHN.

t.o.t steht fett in meinem Terminkalender: Tag der offenen Tür.
Die Schule wechselt zwischen Tourismusprojekt und Marketingkampagne. Alle sollen sich wohlfühlen, das macht die attraktive Schule aus. Sonderangebote wie exotische Auslandsreisen und ungewöhnliche Angebote am Stundenplan würzen die Mischung.

Qualität ist nicht zu sehen. Sieht man nicht.

Die Tür zur Klasse geht auf, einer unserer "Guides" stellt den Besuch vor:
"ER will die 5 A sehen."
ER, das ist ein junger Mann von vielleicht 15 Jahren mit gegeltem Haar und löchrigen Jeans. ER wirft einen gönnerhaften Blick in den Raum und raunt leise zu seinen beiden Freunden: "Pfau, lauter geile Weiber."
"Danke" sage ich höflich, schließe die Türe und wende mich an meine SchülerInnen: "Kennt ihr den?"
"Nein."
"Habt ihr gehört, was er gesagt hat?"
"Ja ..... Stimmt doch .... Ooooder, Herr Professor?"
"Hmmm ... was soll ich jetzt sagen?"

"Geile Weiber" muss ein Kompliment sein, lerne ich. Und ein starkes Argument, in unsere Schule zu kommen.

Qualität sieht man doch.

Bei uns kämpfen die politischen Parteien um die Gesamtschule. Die Medien kämpfen mit, einige wenige Lehrer auch.

Die - schulisch - wirklich wichtigen Revolutionen finden im Hintergrund statt.

"Wir machen jetzt jede Stunde am Anfang eine Vokabelwiederholung", erkärt Kollegin R. ihre neue Taktik in der Klasse.
"Naaa, das machen wir in Englisch auch schon, das ist wirklich zaaach."
(zaaach = zäh = unangenehm)
"Aber es ist notwendig. Bei der neuen Reifeprüfung dürft ihr keine Wörterbücher mehr verwenden, deswegen müssen wir den Wortschatz richtig drillen."
"Und warum dürfen wir die Wörterbücher nicht verwenden? Für meine große Schwester haben wir extra welche gekauft!"
"Warum? ... So ist die neue Vorschrift."
"Ja, schon. Aber warum?"
"Frag' mich nicht. Wenn ich einen Text schreibe, dann verwende ich auch ein Online-Wörterbuch, das macht jeder so, wenn es Unsicherheiten gibt ..."

Schule ist eben anders. Und die Regeln wurden verändert, ohne dass darüber diskutiert oder berichtet wurde. Oder haben Sie das in den Zeitungen gelesen? Irgendjemand hat irgendetwas beschlossen - eine stille Revolution für die Prüfungen und den gesamten Unterricht davor.

Die Fremdsprachenkollegen ärgern sich über eine weitere Umstellung, die ihnen völlig verblödet vorkommt und den Unterricht massiv verändert. Ohne dass darüber in der Öffentlichkeit gesprochen wird. Die Art der Reifeprüfungen wurde still und heimlich - ich habe niemals eine schriftliche Anweisung, einen Erlass oder eine Verordnung dazu gesehen - umgestellt. Ich höre den Vorbereitungen zweier Spanisch-Kolleginnen zu:

"Welchen argumentativen Text lassen wir schreiben?"
"Ich habe mit meiner Klasse die Vor- und Nachtteile der Neuen Medien besprochen ... und die Probleme der Zuwanderung kämen noch in Frage."
"Nein, nein. Das Abwägen von Vor- und Nachteilen ist unerwünscht, die Schüler müssen einseitig argumentieren. Ausserdem kannst du heikle Themen ganz vergessen, das lässt der Landesschulrat nicht zu. Rassismus, Sexismus, Ausländerproblematik - da könnte jemand persönlich betroffen sein, geht gar nicht!"
"Ja, aber Internet, Handy und so ... das sitzen schon die Englischlehrer drauf."
"Und wenn wir über einen Auslandsaufenthalt schreiben lassen, die Wünsche an die Gasteltern, das Studium und so?"
"Das ginge. Das ist harmlos und ein bissi realistisch."

Harmlose Themen, keine Abwägungen, keine Wörterbücher. Stille, blöde Revolutionen. Keiner weiß es, keiner kritisiert es. Schweigen im Walde statt Diskurs und Kritik. Ist politisch erwünscht?!

Für die Hochzeit der Tochter werden wir freigestellt.
Für die Sponsion einer Freundin nicht.
Was die Direktion anbietet:
"Suchen Sie einen Tausch."

Natürlich sage ich nicht Nein, wenn Kollegen Stunden freitauschen wollen. Ich habe es auch schon gebraucht.

Also überwache ich die Übungen, die von der Mathe-Lehrerin vorbereitet wurden.
"Wie heißen Sie?", beginnt die erste Schülerin neugierig zu fragen.
"Teacher", bleibe ich kurz angebunden, um nicht zu sehr von der Arbeit ablenken zu lassen.
"Wem schaue ich ähnlich?", kommt die nächste Frage.
Interessanter Versuch, finde ich, und schaue mich in der unbekannten Klasse um: "Eigentlich niemanden."
"Und ich? Schau ich türkisch aus?", setzt die nächste Dreizehnhährige nach.
"Gar nicht."
"Warum nicht?"
"Helle Haut, helle Haare ..."
"Weil meine Mama ist aus Bosnien!"
"Und dein Papa?"
"Aus der Türkei, aber er ist geschieden."

Sie haben mich gefangen, erfolgreich abgelenkt. Bald steht ein halbes Dutzend Mädchen um mich herum und alle wollen mir ihre Familie vorstellen und ihre Herkunft erklären.
"Shahla ist aus Afghanistan! Hätten Sie das geglaubt?"
"Neee ... ich hätte auf Kirgisien oder Tadschikistan getippt."
Die Mädchen staunen über die fremden Namen, sie haben mit China gerechnet.
In der Zwischenzeit steht "Guten Tag" auf georgisch auf der Tafel und ich versuche es richtig auszusprechen.
"Mein Papa war reich dort, er hat Autos verkauft, jetzt wohnen wir bei so Proleten in der Vorstadt. Die schreien immer herum."
"Und du bist Österreicherin?"
"Nein, ich bin positiv."
"Was heißt denn das?"
"Ich habe keinen Pass, darf aber überall hinreisen."
"Warst Du schon in Georgien?"
"Nein, ich darf überall hin - nur nicht nach Hause."

Dazu sagen sie positiv?!

"Herr Professor, kennen Sie den?"
Eine Schülerin aus der ersten Sitzreihe hält mir ein Foto aus der heutigen Gratiszeitung entgegen.

"Ahhh, das glaub' ich jetzt nicht ..."
Ich muss genauer hinschauen, um sicher zu gehen, dass nicht MEIN FACEBOOK-Bild in der Zeitung gelandet ist.
"Der schaut ja wirklich aus wie ... ich ... auf facebook."
Alle lachen: "Das haben wir auch gleich gesagt!"
"Aber das ist doch der ... Peter Handke, stimmt's."
"Stimmt. Und Sie sind sein Double."
"Na gut, es gibt schlimmere Vergleiche. Aber ... so alt werde ich erst in 20 Jahren aussehen."

Liebe Leser: Habt Ihr jetzt einen optischen Eindruck von eurem teacher?

P.S.: Um ehrlich zu sein - das Foto war wie das Format der Zeitung, klein und schlecht.

Dienstags beginnt mein Unterricht erst um 9.00 Uhr. Die Stunde davor nütze ich für diverse Vorbereitungsarbeiten - wenn ich dazu komme.

"Kannst Du dir das anschauen?" steuert ein Kollege kurz nach 8.00 auf mich zu. Es geht um den Vergleich zweier Mittelklassekameras, zwischen denen sich seine Tochter nicht enscheiden kann.
"Das haben wir gleich", gehen wir die Fakten durch: Brennweite, Lichtstärke, Sensorgröße, Ausstattung, Gewicht usw.
"Aber vergiss die Megapixel: Weniger ist mehr!"
Es wird eine Superzoom-Kamera von Canon, die Entscheidung war in 10 Minuten getroffen.

In der Zwischenzeit hat sich eine Kollegin zu uns gesellt.
"Kannst Du mir auch helfen?"
"Worum geht's?"
"Du hast mir doch meinen Laptop eingerichtet ..."
"Ahhh, das muss ja schon Jahre her sein."

Damals gab es Einschulungen für KollegInnen, die mit Windows, Outlook und Internet Explorer zu arbeiten begannen. In der Zwischenzeit überschlugen sich Betriebssysteme, Medienformate, Hard- und Software. Aber viele Kolleginnen konnten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten und wollten sich mit der digitalen Welt nicht anfreunden.

"Er braucht beim Starten so lange ..."
"Ist da XP oder schon Win 7 drauf?"
"Hmmm."
"Am besten wäre es, den Arbeitsspeicher zu erweitern."
"Laufen dann die Videos auch?"
"Bei youtube und so?"
"Ja, die würde ich gerne runterladen und auf CD brennen. Aber die stottern so."
"Ui, ui, ui. Das wird aufwendig."
"Ist eh alles für die Schule!"

Ich sehe einen halben Tag Arbeit auf mich zukommen und rudere zurück: "Ich weiß nicht, ob ich das alles hinkrieg. Bei Win 7 habe ich das selbst noch nicht probiert."

Wir sind im Durschnitt 50+ und zu zwei Drittel weiblich. Wie viele Frauen in diesem Alter kennen Sie, die von youtube Hörtexte für den CD-Player runtersaugen wollen? Und auch können! Rippen, normalisieren, umformatieren, brennen.

Bei uns werden weder die Computer gewartet noch die Nutzer weitergebildet. Das passiert alles von alleine, oder gar nicht.

Eher zweiteres. Und so entfliehen wir dem Fortschritt nach hinten.

Beim Verlassen des Schulgebäudes sticht mir ein hell beleuchtetes Klassenzimmer ins Auge. Also gehe ich den Gang nach hinten, um die Lampen abzudrehen, die Umwelt zu schonen und der Schule ein paar Cent zu sparen.

Irrtum. Ein Kollege räumt die Klasse zusammen. Richtet die Bänke schnurgerade aus, löscht die Tafel, entfernt die Abfälle vom Boden.

"Ich muss die Schüler beschämen", erklärt er mir ins fragende Gesicht. Er hatte versucht, ihnen klar zu machen, dass ihr Klassenzimmer ihr Wohnraum ist. Dass eine aufgeräumte Umgebung zum Wohlbefinden beiträgt. Dass sie Verantwortung für ihre kleine Welt übernehmen sollten.

Sie haben einen Schweinestall hinterlassen. Also setzt er einen neuen Schritt, einen unkonventionellen.

Ich melde Zweifel an. Er erklärt mir sein Verhältnis zur Klasse:
"Ich möchte sie ganzheitlich als Menschen betrachten, da braucht es viele Schritte ... aber es wirkt. Letztes Mal bin ich ein paar Minuten weggegangen, und siehe da: Sie waren auf ihren Plätzen und haben konzentriert gearbeitet. Weißt du, das sind schöne Momente."
"Diese Klasse? Die probiert doch alles, um vom Lernen abzulenken."
"Deswegen suche ich neue Zugänge. Zum Beispiel lasse ich sie am Anfang der Stunde zum Grüßen nicht aufstehen, ich bitte sie, die Augen zu schließen und sich zu entspannen. 80, 90 Sekunden hören sie in sich hinein, atmen durch, schalten ab ... dann können sie wieder arbeiten."

Ich höre gespannt und interessiert zu. Handeln würde ich so nicht. Der Kollege lebt seine Einstellung, aber kann man diese lehren und an (junge) Kollegen weiterempfehlen und weitergeben? Ist sie sinnvoll oder ist es besser, klar Position zu beziehen: Die Räume müssen aufgeräumt werden, am Anfang der Stunde muss gegrüßt werden, Arbeit muss gemacht werden. Punkt.

Wir haben Verständnis für alles, sogar für einander, aber gemeinsame pädagogische Linie finden wir keine. Haben wir keine. Das verwirrt, glaube ich, unsere Kinder, zutiefst.

Zweite Stunde, geteilte Klasse. Niemand mag vorne sitzen. Fünfzehnjährige schon gar nicht.

Ich schreibe alle neuen Begriffe an die Tafel, diese füllt sich allmählich nach unten an.

Schülerin aus der dritten Reihe:
"Ahhh ... könnten Sie vielleicht die Sessel von der Bank vor mir herunternehmen, ich sehe nicht drüber?"
Ich schaue etwas gestresst von der Tafel zur Schülerin:
"Ich glaube, wir bräuchten einen Diener, oder?"
"OK, ich kann's auch selber machen."
"Gute Idee."

Da flötet eine kecke Schülerin halblaut aus der letzten Reihe:
"Wetten, für MICH hätte er's gemacht!"

"Bist du sicher, SCHATZI?"
A propos:
Wo sonst - ausser in Gefängnissen - kann man so bequem sitzen? Eine Wohlfühloase, oder?


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