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cotopaxi

 
Für die Hochzeit der Tochter werden wir freigestellt.
Für die Sponsion einer Freundin nicht.
Was die Direktion anbietet:
"Suchen Sie einen Tausch."

Natürlich sage ich nicht Nein, wenn Kollegen Stunden freitauschen wollen. Ich habe es auch schon gebraucht.

Also überwache ich die Übungen, die von der Mathe-Lehrerin vorbereitet wurden.
"Wie heißen Sie?", beginnt die erste Schülerin neugierig zu fragen.
"Teacher", bleibe ich kurz angebunden, um nicht zu sehr von der Arbeit ablenken zu lassen.
"Wem schaue ich ähnlich?", kommt die nächste Frage.
Interessanter Versuch, finde ich, und schaue mich in der unbekannten Klasse um: "Eigentlich niemanden."
"Und ich? Schau ich türkisch aus?", setzt die nächste Dreizehnhährige nach.
"Gar nicht."
"Warum nicht?"
"Helle Haut, helle Haare ..."
"Weil meine Mama ist aus Bosnien!"
"Und dein Papa?"
"Aus der Türkei, aber er ist geschieden."

Sie haben mich gefangen, erfolgreich abgelenkt. Bald steht ein halbes Dutzend Mädchen um mich herum und alle wollen mir ihre Familie vorstellen und ihre Herkunft erklären.
"Shahla ist aus Afghanistan! Hätten Sie das geglaubt?"
"Neee ... ich hätte auf Kirgisien oder Tadschikistan getippt."
Die Mädchen staunen über die fremden Namen, sie haben mit China gerechnet.
In der Zwischenzeit steht "Guten Tag" auf georgisch auf der Tafel und ich versuche es richtig auszusprechen.
"Mein Papa war reich dort, er hat Autos verkauft, jetzt wohnen wir bei so Proleten in der Vorstadt. Die schreien immer herum."
"Und du bist Österreicherin?"
"Nein, ich bin positiv."
"Was heißt denn das?"
"Ich habe keinen Pass, darf aber überall hinreisen."
"Warst Du schon in Georgien?"
"Nein, ich darf überall hin - nur nicht nach Hause."

Dazu sagen sie positiv?!
frau_leererin meinte am 29. Sep, 21:26:
Mich wundert nix mehr. Ich glaube, bald ist Zeit, für meinen 1. Blogeintrag... 
teacher antwortete am 29. Sep, 21:53:
Ich bin schon gespannt. 
Woo (Gast) meinte am 29. Sep, 22:01:
Irgendwie hab ich grad ein tierisches DejaVu... ;-) 
teacher antwortete am 29. Sep, 22:03:
Für mich war das absurd. 
emu (Gast) meinte am 30. Sep, 00:16:
Positiv und negativ sind unter (ehemaligen) AsylwerberInnen gängige Bezeichnungen für den internationalen Schutz (also Konventionsflüchtlinge), die Etymologie bezieht sich natürlich auf den entsprechenden Bescheid. Wenn kein Pass vorliegt, gehe ich aber eher von einer subsidiären Schutzberechtigung aus, da wird nicht automatisch ein Fremdenpass ausgestellt (Konventionsreisepässe werden dagegen in aller Regel beantragt). 
teacher antwortete am 1. Okt, 10:56:
Davon bin ich ausgegangen, weil das Mädchen sehr souverän ihre Lage geschildert hat.

Sie war sich nicht bewusst, dass "Ich bin positiv" bei uns meist mit HIV-positiv in Verbindung gebracht wird. 
Ketzerkatze (Gast) meinte am 30. Sep, 13:26:
Eine interessante Mischung hast du in der Klasse gehabt :-)

Ich sehe auch hier bei uns ein Problem bei den Leuten, die im Herkunftsland eine gute Ausbildung (AkademikerInnen z.B.) oder geordnete wirtschaftliche Verhältnisse genossen haben - und hier betrachtet werden, als wären sie BeinaheanalphabetInnen und kämen frisch aus dem "Busch". Gerne wird dann auch im Infinitivdeutsch (du gehen ...) mit ihnen geredet und gehandelt, als wären sie mittelgradig geistig behindert.

Diese Mißachtung des eigenen Potentials (Jobs: Taxifahrer, Putzfrau) gibt auch bei den Kindern einen wahnsinnigen Frust, ein Gefühl des Nichtausreichens, des Nichtankommens und -dazugehörens.

Wenn sogar die akademische Ausbildung der Mutter zu einem Job als Putzfrau und dem Verdacht des Sichdurchschmarotzens führt - wozu soll die Tochter sich dann bemühen - Putzfrau kann man auch mit Sonderschulabschluss werden.

Die Kids dann bei der Stange zu halten, sich zu bemühen, zu bilden, zu entwickeln - ohne ihnen irgend ein "Versprechen" oder auch nur begründete "Hoffnung" machen zu können, dass es zu etwas nütze - DAS ist dann mal wirklich manchmal ein Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden. 
teacher antwortete am 1. Okt, 11:03:
Diese Mädchen - es waren keine Jungs dabei - sprechen alle perfekt Deutsch und zuhause natürlich ihre Muttersprache und strengen sich an, bei uns im Gymnasium die Voraussetzungen für eine gute Zukunft zu schaffen. Sie reflketieren ihren Status bei uns in der Schule und in der Gesellschaft und sehen diesen ziemlich erwachsen-nüchtern.

P.S.: Seither grüßen sie mich freundlichst auf den Gängen, sie haben sich offensichtlich gefreut, dass ich meine Wertschätzung für ihre Sprachkenntnisse und ihre Kultur mit ein paar Worten zum Ausdruck gebracht habe.

P.P.S: Bei der Integration sollten wir hier ansetzen, besonders bei der Bildung der Mädchen, da ist soviel Wille zu spüren. 
Ketzerkatze (Gast) antwortete am 1. Okt, 15:37:
Kann ich unterschreiben - machen wir auch so.

Im Bildungsprojekt für Jugendliche sitzen auch ausschließlich Mädchen - perfekt Deutsch sprechende, interessierte, bildungsbeflissene Mädchen mit höchstens einem (!) Dreier auf dem Zeugnis - Gymnasium, Gesamt- oder Realschule.

Aber manchmal blitzt es halt auf: eine wahnsinnige Unsicherheit, ob "es" denn "reicht" ... immerhin sitzen die akademisch ausgebildeten, fließend, wenn auch nicht perfekt, Deutsch sprechenden und weiterhin bildungsbeflissenen Mütter (Teilnehmerinnen des Bildungsprojektes für Erwachsene) auf eben ihren Putzenjobs fest.

Motivation, Wille, Engagement - alles vorhanden zu allseitigem Wohlgefallen. Aber wenn du dran kratzt: Angst, Unsicherheit, das Gefühl des Nichtgewolltwerdens. Immer noch ... 
teacher antwortete am 2. Okt, 17:08:
Diese Unsicherheit spüre ich auch: Die Mädchen versichern sich durch die im Blog beschriebenen Fragen, die Burschen tendieren eher dazu, sich zu Gruppen zusammenzuschließen, um stärker zu wirken. 
 

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