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cotopaxi

 
Bei uns kämpfen die politischen Parteien um die Gesamtschule. Die Medien kämpfen mit, einige wenige Lehrer auch.

Die - schulisch - wirklich wichtigen Revolutionen finden im Hintergrund statt.

"Wir machen jetzt jede Stunde am Anfang eine Vokabelwiederholung", erkärt Kollegin R. ihre neue Taktik in der Klasse.
"Naaa, das machen wir in Englisch auch schon, das ist wirklich zaaach."
(zaaach = zäh = unangenehm)
"Aber es ist notwendig. Bei der neuen Reifeprüfung dürft ihr keine Wörterbücher mehr verwenden, deswegen müssen wir den Wortschatz richtig drillen."
"Und warum dürfen wir die Wörterbücher nicht verwenden? Für meine große Schwester haben wir extra welche gekauft!"
"Warum? ... So ist die neue Vorschrift."
"Ja, schon. Aber warum?"
"Frag' mich nicht. Wenn ich einen Text schreibe, dann verwende ich auch ein Online-Wörterbuch, das macht jeder so, wenn es Unsicherheiten gibt ..."

Schule ist eben anders. Und die Regeln wurden verändert, ohne dass darüber diskutiert oder berichtet wurde. Oder haben Sie das in den Zeitungen gelesen? Irgendjemand hat irgendetwas beschlossen - eine stille Revolution für die Prüfungen und den gesamten Unterricht davor.

Die Fremdsprachenkollegen ärgern sich über eine weitere Umstellung, die ihnen völlig verblödet vorkommt und den Unterricht massiv verändert. Ohne dass darüber in der Öffentlichkeit gesprochen wird. Die Art der Reifeprüfungen wurde still und heimlich - ich habe niemals eine schriftliche Anweisung, einen Erlass oder eine Verordnung dazu gesehen - umgestellt. Ich höre den Vorbereitungen zweier Spanisch-Kolleginnen zu:

"Welchen argumentativen Text lassen wir schreiben?"
"Ich habe mit meiner Klasse die Vor- und Nachtteile der Neuen Medien besprochen ... und die Probleme der Zuwanderung kämen noch in Frage."
"Nein, nein. Das Abwägen von Vor- und Nachteilen ist unerwünscht, die Schüler müssen einseitig argumentieren. Ausserdem kannst du heikle Themen ganz vergessen, das lässt der Landesschulrat nicht zu. Rassismus, Sexismus, Ausländerproblematik - da könnte jemand persönlich betroffen sein, geht gar nicht!"
"Ja, aber Internet, Handy und so ... das sitzen schon die Englischlehrer drauf."
"Und wenn wir über einen Auslandsaufenthalt schreiben lassen, die Wünsche an die Gasteltern, das Studium und so?"
"Das ginge. Das ist harmlos und ein bissi realistisch."

Harmlose Themen, keine Abwägungen, keine Wörterbücher. Stille, blöde Revolutionen. Keiner weiß es, keiner kritisiert es. Schweigen im Walde statt Diskurs und Kritik. Ist politisch erwünscht?!

Für die Hochzeit der Tochter werden wir freigestellt.
Für die Sponsion einer Freundin nicht.
Was die Direktion anbietet:
"Suchen Sie einen Tausch."

Natürlich sage ich nicht Nein, wenn Kollegen Stunden freitauschen wollen. Ich habe es auch schon gebraucht.

Also überwache ich die Übungen, die von der Mathe-Lehrerin vorbereitet wurden.
"Wie heißen Sie?", beginnt die erste Schülerin neugierig zu fragen.
"Teacher", bleibe ich kurz angebunden, um nicht zu sehr von der Arbeit ablenken zu lassen.
"Wem schaue ich ähnlich?", kommt die nächste Frage.
Interessanter Versuch, finde ich, und schaue mich in der unbekannten Klasse um: "Eigentlich niemanden."
"Und ich? Schau ich türkisch aus?", setzt die nächste Dreizehnhährige nach.
"Gar nicht."
"Warum nicht?"
"Helle Haut, helle Haare ..."
"Weil meine Mama ist aus Bosnien!"
"Und dein Papa?"
"Aus der Türkei, aber er ist geschieden."

Sie haben mich gefangen, erfolgreich abgelenkt. Bald steht ein halbes Dutzend Mädchen um mich herum und alle wollen mir ihre Familie vorstellen und ihre Herkunft erklären.
"Shahla ist aus Afghanistan! Hätten Sie das geglaubt?"
"Neee ... ich hätte auf Kirgisien oder Tadschikistan getippt."
Die Mädchen staunen über die fremden Namen, sie haben mit China gerechnet.
In der Zwischenzeit steht "Guten Tag" auf georgisch auf der Tafel und ich versuche es richtig auszusprechen.
"Mein Papa war reich dort, er hat Autos verkauft, jetzt wohnen wir bei so Proleten in der Vorstadt. Die schreien immer herum."
"Und du bist Österreicherin?"
"Nein, ich bin positiv."
"Was heißt denn das?"
"Ich habe keinen Pass, darf aber überall hinreisen."
"Warst Du schon in Georgien?"
"Nein, ich darf überall hin - nur nicht nach Hause."

Dazu sagen sie positiv?!

"Herr Professor, kennen Sie den?"
Eine Schülerin aus der ersten Sitzreihe hält mir ein Foto aus der heutigen Gratiszeitung entgegen.

"Ahhh, das glaub' ich jetzt nicht ..."
Ich muss genauer hinschauen, um sicher zu gehen, dass nicht MEIN FACEBOOK-Bild in der Zeitung gelandet ist.
"Der schaut ja wirklich aus wie ... ich ... auf facebook."
Alle lachen: "Das haben wir auch gleich gesagt!"
"Aber das ist doch der ... Peter Handke, stimmt's."
"Stimmt. Und Sie sind sein Double."
"Na gut, es gibt schlimmere Vergleiche. Aber ... so alt werde ich erst in 20 Jahren aussehen."

Liebe Leser: Habt Ihr jetzt einen optischen Eindruck von eurem teacher?

P.S.: Um ehrlich zu sein - das Foto war wie das Format der Zeitung, klein und schlecht.

Dienstags beginnt mein Unterricht erst um 9.00 Uhr. Die Stunde davor nütze ich für diverse Vorbereitungsarbeiten - wenn ich dazu komme.

"Kannst Du dir das anschauen?" steuert ein Kollege kurz nach 8.00 auf mich zu. Es geht um den Vergleich zweier Mittelklassekameras, zwischen denen sich seine Tochter nicht enscheiden kann.
"Das haben wir gleich", gehen wir die Fakten durch: Brennweite, Lichtstärke, Sensorgröße, Ausstattung, Gewicht usw.
"Aber vergiss die Megapixel: Weniger ist mehr!"
Es wird eine Superzoom-Kamera von Canon, die Entscheidung war in 10 Minuten getroffen.

In der Zwischenzeit hat sich eine Kollegin zu uns gesellt.
"Kannst Du mir auch helfen?"
"Worum geht's?"
"Du hast mir doch meinen Laptop eingerichtet ..."
"Ahhh, das muss ja schon Jahre her sein."

Damals gab es Einschulungen für KollegInnen, die mit Windows, Outlook und Internet Explorer zu arbeiten begannen. In der Zwischenzeit überschlugen sich Betriebssysteme, Medienformate, Hard- und Software. Aber viele Kolleginnen konnten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten und wollten sich mit der digitalen Welt nicht anfreunden.

"Er braucht beim Starten so lange ..."
"Ist da XP oder schon Win 7 drauf?"
"Hmmm."
"Am besten wäre es, den Arbeitsspeicher zu erweitern."
"Laufen dann die Videos auch?"
"Bei youtube und so?"
"Ja, die würde ich gerne runterladen und auf CD brennen. Aber die stottern so."
"Ui, ui, ui. Das wird aufwendig."
"Ist eh alles für die Schule!"

Ich sehe einen halben Tag Arbeit auf mich zukommen und rudere zurück: "Ich weiß nicht, ob ich das alles hinkrieg. Bei Win 7 habe ich das selbst noch nicht probiert."

Wir sind im Durschnitt 50+ und zu zwei Drittel weiblich. Wie viele Frauen in diesem Alter kennen Sie, die von youtube Hörtexte für den CD-Player runtersaugen wollen? Und auch können! Rippen, normalisieren, umformatieren, brennen.

Bei uns werden weder die Computer gewartet noch die Nutzer weitergebildet. Das passiert alles von alleine, oder gar nicht.

Eher zweiteres. Und so entfliehen wir dem Fortschritt nach hinten.

Beim Verlassen des Schulgebäudes sticht mir ein hell beleuchtetes Klassenzimmer ins Auge. Also gehe ich den Gang nach hinten, um die Lampen abzudrehen, die Umwelt zu schonen und der Schule ein paar Cent zu sparen.

Irrtum. Ein Kollege räumt die Klasse zusammen. Richtet die Bänke schnurgerade aus, löscht die Tafel, entfernt die Abfälle vom Boden.

"Ich muss die Schüler beschämen", erklärt er mir ins fragende Gesicht. Er hatte versucht, ihnen klar zu machen, dass ihr Klassenzimmer ihr Wohnraum ist. Dass eine aufgeräumte Umgebung zum Wohlbefinden beiträgt. Dass sie Verantwortung für ihre kleine Welt übernehmen sollten.

Sie haben einen Schweinestall hinterlassen. Also setzt er einen neuen Schritt, einen unkonventionellen.

Ich melde Zweifel an. Er erklärt mir sein Verhältnis zur Klasse:
"Ich möchte sie ganzheitlich als Menschen betrachten, da braucht es viele Schritte ... aber es wirkt. Letztes Mal bin ich ein paar Minuten weggegangen, und siehe da: Sie waren auf ihren Plätzen und haben konzentriert gearbeitet. Weißt du, das sind schöne Momente."
"Diese Klasse? Die probiert doch alles, um vom Lernen abzulenken."
"Deswegen suche ich neue Zugänge. Zum Beispiel lasse ich sie am Anfang der Stunde zum Grüßen nicht aufstehen, ich bitte sie, die Augen zu schließen und sich zu entspannen. 80, 90 Sekunden hören sie in sich hinein, atmen durch, schalten ab ... dann können sie wieder arbeiten."

Ich höre gespannt und interessiert zu. Handeln würde ich so nicht. Der Kollege lebt seine Einstellung, aber kann man diese lehren und an (junge) Kollegen weiterempfehlen und weitergeben? Ist sie sinnvoll oder ist es besser, klar Position zu beziehen: Die Räume müssen aufgeräumt werden, am Anfang der Stunde muss gegrüßt werden, Arbeit muss gemacht werden. Punkt.

Wir haben Verständnis für alles, sogar für einander, aber gemeinsame pädagogische Linie finden wir keine. Haben wir keine. Das verwirrt, glaube ich, unsere Kinder, zutiefst.

Zweite Stunde, geteilte Klasse. Niemand mag vorne sitzen. Fünfzehnjährige schon gar nicht.

Ich schreibe alle neuen Begriffe an die Tafel, diese füllt sich allmählich nach unten an.

Schülerin aus der dritten Reihe:
"Ahhh ... könnten Sie vielleicht die Sessel von der Bank vor mir herunternehmen, ich sehe nicht drüber?"
Ich schaue etwas gestresst von der Tafel zur Schülerin:
"Ich glaube, wir bräuchten einen Diener, oder?"
"OK, ich kann's auch selber machen."
"Gute Idee."

Da flötet eine kecke Schülerin halblaut aus der letzten Reihe:
"Wetten, für MICH hätte er's gemacht!"

"Bist du sicher, SCHATZI?"
A propos:
Wo sonst - ausser in Gefängnissen - kann man so bequem sitzen? Eine Wohlfühloase, oder?


LehrerInnensessel:

Lehrersessel


SchülerInnensessel:

Schule101

Auf meinem Tisch liegt ein fremdsprachiger Text. Eine verhinderte Kollegin bittet mich, ihre Klasse für eine Stunde zu übernehmen:
"Lass' dir vom Urlaub erzählen, ich bin damit nicht fertig geworden."

Ich gehe in eine sehr beliebte, interessierte und engagierte Klasse und spreche kein Wort Deutsch. Die Jugendlichen (16-17 Jahre) kennen mich nur oberflächlich, eher vom Sehen als vom Hören, und steigen sofort auf meine Fragen ein.

"Ich war in Kairo, aber nicht bei den Pyramiden", beginnt ein auffallend hübsches Mädchen mit Kopftuch.
"Sondern?"
"Am liebsten hätte ich ein Zelt am Tahrir-Platz aufgestellt, so packend ist die Atmosphäre dort. Du bist nur ein paar Minuten dort und schon sprechen dich die Menschen an, sie berichten von ihrem Leben, ihren Problemen ..."
"Worum geht es da? Und akzeptieren sie dich als Ausländerin?"
"Ich spreche Arabisch ... und natürlich haben sie mich vorher kontrolliert, da sind ja auch Leute, die Unruhe stiften wollen. Also sie reden von ihren Alltagssorgen, zum Beispiel, dass sie zu wenig verdienen, es geht ums einfache Leben."
"Auch um Freiheit?"
"Auch. Aber mehr um Abrechnung mit der Vergangenheit. Viele wurden in den letzten Jahren unterdrückt."

Ich könnte mit dem Mädchen stundenlang diskutieren, sie spürt, dass sie von einem historischen Schauplatz berichtet. Leider werden manche Mitschüler unruhig, weil sie nicht persönlich involviert sind. Längeres, passives Zuhören gelingt auch den vorbildlichsten Jugendlichen nicht, deswegen wechseln wir zu anderen Urlaubserinnerungen: Kroatien,Türkei, Kanada. Richtig spannend wird es wieder, als ein Mädchen von Norwegen zu erzählen beginnt.
"Du warst in den Ferien in Oslo?"
"Ja, aber eine Woche vor dem Anschlag."
"Und?"
"Kopenhagen ist schöner."

Globalisierung ist Realität.

Montag ging es los - Schulbeginn.

07.30: Eröffnungskonferenz.

Kurze Vorstellung der neuen Kolleginnen, die angesichts der chaotischen Drängerei im überfüllten Saal ratlose Gesichter machen. Die Frau Direktor nimmt Nervosität aus dem Spiel: "Im Durchschnitt ist das unser vierzigster Schulbeginn - was soll ich Ihnen Neues erzählen?"
Im Schnitt sind wir fünfzig Jahre alt und seit unserem 6. Geburtstag starten wir jeden Herbst in ein neues Schuljahr.

Verkündigung wichtiger Termine.
Dann geht es in die Klassen.

Ich habe noch Zeit bis zu den ersten Wiederholungsprüfungen und entdecke auf meinem Schreibtisch ein kleines buntes Papier - ein Los der Österreichischen Lotterie: "3000 Euro - ein Leben lang", verspricht die Aufschrift, wenn man die richtigen Symbole freirubbelt.

Das wäre eine verlockende Alternative zum Schulbeginn. Eine liebe Kollegin hat unsere ganze Tischreihe damit beschenkt und meint: "Ich hab's gut, ich gehe jetzt in Pension. Für euch habe ich diese Lose gekauft ..."

Danke. Ich rubble. "Leider kein Gewinn".
Eine andere Kollegin beugt sich über die Tische: "Morgen nach der Schule gibt's Champagner bei Christine, kommst Du?"
"Na sicher."
Christine feiert ihre Pensionierung. Jedes Jahr feiert sie. Seit Jahren.
"Aber wir müssen ins Bergwerk", höre ich eine Stimme beim Ausgang.

Enthusiasmen des Schulbeginns.

Ganz am Anfang war das A.

Allah.
All.
Allmacht.

Dann kam Adam: "Na? Sag ja!"
Mama: "Na!"

A Drama. Fatal.


Kollege A. schwimmt als Chorleiter auf der Erfolgswelle.
Kollegin B. ist als Fotokünstlerin anerkannt.
Kollege C. probt mit seiner Band für die nächste CD.
Kollege D. schreibt an seinem dritten Lehrbuch.
Kollege E. trainiert zwei Athleten für die Olympiade.
Kollegin F. führt Eingeweihte durch den Dschungel Borneos.
Kollegin G. organisiert Entwicklungshilfe in Uganda.
Kollege H. hält an der Uni beliebte Seminare.
Kollege I. berät Firmen bei der Installation von Intranetzen.
Kollege J. schlichtet als Moderatorin Streitfälle.
Kollegin K. fungiert als gerichtlich beeidetet Sachverständige.
Kollege L. keltert ausgezeichnete Weine.
Kollege M. baut zuhause ein Cembalo aus dem Barock nach.
Kollegin N. studiert Translationswissenschaft.
Kollege O. repariert alte (und neue) Motorräder.
Kollege P. züchtet seltene Fische.
Kollegin Q. leitet eine Theatergruppe (mit Ex-SchülerInnen).
Kollegin R. ist Segelfliegerin, Hobbypilotin und Freizeitkapitän.
Kollege S. gibt Gratisnachhilfe in eh allen Fächern.
Kollege T. gehört dem Alpenverein.
Kollegin U. schreibt Gedichte und Kurzgeschichten. Französisch.
Kollegin V. dient Gott und der Kirche.
Kollegin W. baut eine Schule in Brasilien.
Kollegin X. steht dem Schulverein vor.
Kollege Y. dient als Reserveoffizier.
Kollege Z. ist ein fauler, weltfremder, unfähiger Sadist ... und steht in der Zeitung.

Wie können wir Z. loswerden und das Engagement der anderen auf den Unterricht lenken?

Schöne Ferien,

glg teacher

 

twoday.net AGB

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