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cotopaxi

 
Alex ist ein guter und liebenswerter Schüler. Ein fescher Jüngling ausserdem. Vielleicht ein bisschen zu exzentrisch für seine 17 Jahre. Vielleicht ein bisschen zu arrogant, um bei den Mädchen anzukommen. Ich kenne ihn seit Jahren, jetzt ist er in der Abschlussklasse und redet sehr offen über sein Leben.

"Ach, wissen Sie. Die Schule nimmt sich wichtiger als sie ist, sie spielt doch nur eine Nebenrolle in unserem Leben. Wichtig sind die Freunde, die Freunde ... und die Freunde."
"Davon hast Du doch gar nicht so viele", entgegne ich ihm ganz direkt.
"Ja, leider. Ich mag da viele nicht ... Genau genommen hänge ich mehr vor dem Fernseher herum als bei Freunden."
"Und was schaust Du so?"
"Ich habe mal von der Konträrfaszination gelesen. Das passt gut zu mir. In der Schule habe ich so viel Seriöses zu tun, immer soll ich funktionieren, reflektieren ... daher schaue ich gerne den totalen Schund, so Nachmittag-Talks, so besoffene Geschichten ..."
"Und was gibt dir das?"
"Keine Ahnung. Ich geh auch in so abgefuckte Lokale, so richtig tiefe Pubs in der Stadt. Als braves Kind hat man immer das Gefühl, man könnte was versäumen."
"Was denn?"
"Was man in den Serien so sieht. Die größten Prolos reissen sich die Tussies auf, der Lugner fährt mit seinen Weibern in die Türkei, der andere sucht sich im Osten seine Abenteuer."
"Verstehe."

Offensichtlich vergleichen wir unser fades Alltagsleben mit den Abenteuern im Fernsehen. Anfang der Depression. Rein in den Alkohol. Nur nichts versäumen.
Ralf E (Gast) meinte am 10. Mai, 18:49:
... dazu MUSS ich das hier posten:
Das Lügenfernsehen - scripted reality
http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_die_reporter/luegenfernsehen105.html 
teacher antwortete am 10. Mai, 20:50:
Danke für den link. Passt perfekt. 
IO (Gast) meinte am 10. Mai, 20:55:
Alles ganz, ganz schlimm.
Und das zu ersten Mal in der Weltgeschichte. Früher war die vorangegangene Generation immer höchst zufrieden mit dem Nachwuchs, aber heuer ist zum ersten Mal alles ganz, ganz schlimm. 
soifz (Gast) antwortete am 10. Mai, 21:50:
die wöd schteht nimmermehr long. 
outing (Gast) antwortete am 10. Mai, 21:56:
hier kann ichs ja sagen: mir gehen halbwüchsige tierisch auf die nerven. wenn sie im öffentlichen raum laut ihre musik spielen und mich damit terrorisieren, wenn sie rücksichtslos rempeln, blödsinn reden usw.
ich kann für pubertierende null sympathie aufbringen.
ist so.
und ich darf mich gottseidank dazu bekennen. weil ich kein lehrer bin.
(und nein: ICH war nicht so.) 
nehalennia (Gast) antwortete am 10. Mai, 23:41:
bin jetzt 40+ und meine mich erinnern zu können, dass nicht nur meine Eltern mit mir nicht zufrieden waren, sondern sicherlich 80% der Eltern meiner Schulkollegen mit ihrem Nachwuchs.

Das "die wöd schteht nimmermehr long" Gen scheint sich erst so ab 40 zu entwickeln bzw. auszubrechen.

Bei uns gabs nicht so viele Kanäle und trotzdem zogen wir uns genug Schund rein... von den Parties und den dunklen Lokalen (Donau, das 1. und Co.) ganz zu schweigen....

Warten wir ab, bis diese junge Generation 40+ ist 
teacher antwortete am 11. Mai, 15:44:
@IO: Wie schlimm ist es, dass ich ständig Jugendliche in der Schule treffe, die in Depression verfallen (und in Behandlung gehen, Tabletten schlucken), Kinder mit schweren Störungen (ADS etc.) ... die es alle vor 20 Jahren nicht gegeben hat?

Die Idee, dass alles wie früher ist, kann man unter diesen Diagnosen einfach nicht aufrecht erhalten. Ausser man will einfach nicht hinschauen. 
IO (Gast) antwortete am 11. Mai, 21:09:
Gerhardt Nissen mag dir in seinem Buch "Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute" widersprechen.

Ich würde mich eher darüber freuen, dass man heute bessere therapeutische Ansätze als Besserungsanstalt oder ähnliches hat. Aber du kannst das auch einfach alles ganz, ganz schlimm finden. Meine Wahrnehmung bestimmt meine Realität, deine Wahrnehmung bestimmt deine Realität. Ich schaue bei Sachen die mich interessieren sehr genau hin. Bei manchen gibt es halt keinen Anlaß in unltimativen Trübsinn zu verfallen. Recht werden wir am Ende wohl beide nicht haben, diw Wahrheit liegt ja meist eher in der Mitte. Aber irgendwie drängt sich mir der Verdacht auf, dass ich das angenehmere Leben führe, weil mein ehemals halb leeres Glas voller und voller wird ;-) Versteh mich bitte nicht falsch, wenn du glücklich bist, dann mach bitte genau so weiter wie bisher. Ich gönne dir das von Herzen und wünsche jedem Menschen Glück in dem zu finden was er tut. Ich habe nur den Verdacht, dass dies bei dir eben gerade nicht der Fall ist. Egal ob du über dich oder andere schreibst, meist sind es negative Erlebnisse. Zumindest verwendest du bei der Beschreibung Worte die im allgemeinen Empfinden so geprägt sind. Überforderung, Burn Out, Verständnislosigkeit, Zukunftsangst, etc. sind bei dir Dauerthemen. Ich finde es super das du dich damit beschäftigst. Das ist auch stets spannend zu lesen, sonst wäre ich ja nicht hier. Nur würde ich aus vielem deutlich andere Schlüsse ziehen. Und versuchen meine Position stets aus einem anderen Blickwinkel zu überprüfen, weil man zumeist ja nicht die Hand vor Augen, den Wald vor lauter Bäumen, etc. sieht. Du erkennst das Problem, aber du strebst nicht nach der Lösung. Das wäre mir zu kurz gegriffen. Um jetzt nicht noch einen Roman zu schreiben:"Wenn dir das Leben Zitronen gibt, dann mach Limonade daraus." 
teacher antwortete am 12. Mai, 12:19:
Das ist eine sehr zentrale Frage: Sind die Probleme, die ich hier beschreibe so gravierend oder sehe ich sie nur so.

Es ist leicht festzustellen, dass Jugendliche heute viel öfter übergewichtig sind und z.B. fürs Heer aus physischen und psychischen Gründen untauglich als zu vergleichen, ob sie früher zufriedener, ausgeglichener oder lernwilliger waren. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich mir die Entwicklung der letzten 20 Jahre anschaue ... und ich sehe zig Lehrer, die genauso pessimistisch sind. Liegen wir alle falsch? 
IO (Gast) antwortete am 13. Mai, 09:03:
Angenommen du hast Recht. Willst du dann darüber verzweifeln?

Allein das jährlich zig tausend Kinder elendig an Hunger und Durst sterben sollte genug Anlaß sein vor Trübsal zu vergehen. Da ist das was wir hier führen eine reine Wohlstandsdiskussion.

Angenommen du irrst dich, wärst du dann sofort nach Erkenntnis wesentlich besser drauf?

Ich vermute die Antwort auf diese Frage würde dich keinen Schritt weiter bringen.

In meinen Augen solltest du dir lieber Gedanken dazu machen, was du willst. Und das unter der Vorraussetzung, dass du nur und höchstens Kontrolle über dich hast. 
teacher antwortete am 13. Mai, 21:19:
Ich bin überzeugt, dass ich recht habe. Und schreibe deshalb hier. Viel kann ich damit nicht erreichen, aber ich habe das gute Gefühl, wenigstens nicht zu schweigen ... und ich verzweifle nicht. 
walküre meinte am 11. Mai, 13:21:
Welches Leben führen die Eltern des jungen Mannes ?

Schaut nicht aus, als hätten sie sich jemals mit ihrem Sohn zusammengesetzt und über die Trugbilder des Fernsehens diskutiert. Schaut nicht aus, als hätten sie ihm beigebracht, dass intakte und von Herzen kommende soziale Beziehungen zum Besten gehören, was einem in einem Menschenleben begegnen kann. Schaut nicht aus, als hätten sie mit ihm auf einer ehrlichen Ebene über das Leben mit all seinen Facetten gesprochen.

Er sucht, aber wie soll er finden, wenn ihm niemand dabei hilft ? "Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen" ist ein Titel eines Erziehungsratgebers, den ich zwar nie gelesen habe, dessen Titel ich aber für ganz wunderbar und sehr zutreffend halte.


PS: Beim obigen NDR-Link bitte auch unbedingt die anderen Beiträge im Seitenmenü lesen - unter anderem "Die Opfer einer Doku-Soap" und "Warum bei Doku-Soaps mehr erfunden als echt ist". 
teacher antwortete am 11. Mai, 15:40:
Die Eltern kenne ich gut - gebildet (dementsprechend sein Wortschatz), nett, permissiv (dementsprechend sein Konsumverhalten). Ich glaube, dass er die Trugbilder des TV erkennt, aber die Verführungskraft ist viel stärker als der Widerstandswille eines Jugendlichen. 
david ramirer meinte am 11. Mai, 13:32:
bei einem jungen mann, dem das wort konträrfaszination so selbstverständlich im gespräch von den lippen geht, kann nicht alles schiefgegangen sein...

sorgen machen mir eher die jungen leute, die ihren wortschatz aus dem fernsehen beziehen und lesen für eine antiquierte übung halten. 
walküre antwortete am 11. Mai, 13:34:
Dieses Wort zu kennen, bedeutet noch lange nicht, zu sozialer Interaktion fähig zu sein.

edit: Entschuldige bitte, wenn meine Replik hier harsch klingt, aber ich hab die Nase einfach gestrichen voll von all den hochtrabenden Begriffen, hinter denen Menschen Hilflosigkeit und das Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung zu verbergen suchen ... 
david ramirer antwortete am 11. Mai, 13:41:
ich habe auch nicht behauptet, dass er ein musterbeispiel sozialer interaktion ist ;)

...aber in der geschichte wird jemand beschrieben, der wenige freunde hat: ist das grundsätzlich schlecht? ich finde nein. denn wenn die wenigen freunde richtige freunde sind, ist das besser als ganze trauben von bekanntschaften, bei denen keine einzige in die tiefe geht.

...und der junge mann macht auf mich aufgrund seiner anmerkungen keinen desorien- oder unreflektierten eindruck: er beobachtet den kontrast zwischen dem einen und dem anderen leben, ohne sich in die lügen des fernsehens einzufügen. er beobachtet die differenzen und zieht erste schlüsse. das ist mit 17 meiner meinung nach ideal.

allerdings muss ich dazu sagen, dass ein längeres gespräch mit ihm vielleicht erhellender wäre. 
teacher antwortete am 11. Mai, 15:45:
Ich mache mir um ihn keine Sorgen, im Gegenteil. ER wählt bewusst aus, viele sind nur "Opfer". 
Ketzerkatze (Gast) antwortete am 11. Mai, 21:14:
Wenig Freunde
Ist das nicht der Tanz ums goldene Kalb "Beliebtheit"?

Was ist schlimm daran, wenig "beliebt" zu sein - z.B. weil man andere Interessen hat als die "Beliebenden", andere Bücher liest, anderes denkt, sich anders anzieht - speziell wird schnell zu "unbeliebt", da "anders".

Ich finds nicht "schlimm", wenn jemand "wenig Freunde" hat - solang er das so will und sich über anderes definiert als "Beliebtheit" - die eben sehr schnell zur "Beliebigkeit" wird. 
teacher antwortete am 12. Mai, 12:21:
Er war nicht der beliebteste Star in der Klasse, dafür war er einfach zu intelligent und intellektuell. 
bonanzaMARGOT meinte am 12. Mai, 14:54:
aber die wahrnehmung von alex ist gar nicht nur falsch.
du bezeichnest ihn als guten und liebenswerten schüler - damit hat er seinen auftrag doch erfüllt!? darf er sich nicht nach abenteuer sehnen?
das leben ist so schnell vorbei. der alltag frißt einen auf in familie und beruf. die ganzen scheiß zwänge, die einem von der gesellschaft auferlegt werden. die schule gehört auch dazu. leben ist doch mehr als nur maloche, anständig bleiben und häusle bauen.
die jungen menschen wollen es ausprobieren. früh genug werden die meisten von ihnen zu spießern - wie wir es wurden.
mein gott, es gibt frauen, die nach ihrer scheidung mit mitte dreißig oder noch später erst zu leben anfangen!
und männer, na ja. die männer. die meisten werden faul und träge.
also lass die jungs doch ihre vitalen zeiten auskosten! 
teacher antwortete am 12. Mai, 17:46:
Er lebt ja gut ... und ist unzufrieden, weil er (wie viele) sein Leben mit den Trugbildern der Medien vergleicht. Auch das Leben seiner Vorbilder (Eltern, Lehrer, Erwachsene ...) muss ihm furchtbar langweilig vorkommen, da ist der Weg zu Drogen oder in die Depression nicht weit. 
bonanzaMARGOT antwortete am 12. Mai, 17:58:
ihre erfahrungen mit alkohol und anderen drogen müssen die jugendlichen so oder so machen. also, mit ein paar ausnahmen, die scheinbar gegen alle verfühhrungen geeicht sind.
ich würde darum nicht gleich alles schwarz malen. wichtig ist, dass die jungen leute offen bleiben und über ihre erfahrungen (ehrlich) erzählen. 
jama (Gast) meinte am 15. Mai, 18:18:
Das Gefühl, nichts versäumen zu wollen, kenn ich auch ganz gut. Ich hab mir öfters darüber den Kopf zerbrochen und bin letztendlich immer zum selben Schluss gekommen: Ich bin auch so glücklich; ohne auszugehen, ohne zu feiern. Solche Serien oder Talks schau ich nicht an. Ich hab trotzdem einige Freunde. Nach der Matura hab ich nach und nach sogar gemerkt, dass ich in der Schule gar nicht so sozial abgegrenzt war wie ich immer dachte... Wohl gemerkt, DANACH.

Während der Schulzeit nagte immer das Gefühl in mir, etwas versäumt zu haben. Diese Gefühl is sogar jetzt noch da. Ich werd mich nicht ändern, ich will mich nicht ändern, aber dieses blöde Gefühl kann ich trotzdem nicht loswerden. 
teacher antwortete am 15. Mai, 20:02:
Glaubst du nicht, dass diese Wünsche aus den Medien kommen? 
jama (Gast) antwortete am 15. Mai, 22:50:
Ich glaube, diese "Wünsche" sind nichts anderes als das im unten verlinkten Artikel beschriebene "Opportunity cost":

http://lifehacker.com/5798202/the-cognitive-cost-of-doing-things

"[...] a natural second guessing of choices by taking one path and not another."

Also weniger medialer Einfluss, als einfach der mich ständig begleitende, vage Hintergedanke, dass ich vielleicht irgendwo irgendwas hätte besser machen können.

Und vorweg: Ich denke trotzdem, dass ich insgesamt ein Opportunist bin. :) 
 

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