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cotopaxi

 
"Herr Professor, kennen Sie den?"
Eine Schülerin aus der ersten Sitzreihe hält mir ein Foto aus der heutigen Gratiszeitung entgegen.

"Ahhh, das glaub' ich jetzt nicht ..."
Ich muss genauer hinschauen, um sicher zu gehen, dass nicht MEIN FACEBOOK-Bild in der Zeitung gelandet ist.
"Der schaut ja wirklich aus wie ... ich ... auf facebook."
Alle lachen: "Das haben wir auch gleich gesagt!"
"Aber das ist doch der ... Peter Handke, stimmt's."
"Stimmt. Und Sie sind sein Double."
"Na gut, es gibt schlimmere Vergleiche. Aber ... so alt werde ich erst in 20 Jahren aussehen."

Liebe Leser: Habt Ihr jetzt einen optischen Eindruck von eurem teacher?

P.S.: Um ehrlich zu sein - das Foto war wie das Format der Zeitung, klein und schlecht.

Dienstags beginnt mein Unterricht erst um 9.00 Uhr. Die Stunde davor nütze ich für diverse Vorbereitungsarbeiten - wenn ich dazu komme.

"Kannst Du dir das anschauen?" steuert ein Kollege kurz nach 8.00 auf mich zu. Es geht um den Vergleich zweier Mittelklassekameras, zwischen denen sich seine Tochter nicht enscheiden kann.
"Das haben wir gleich", gehen wir die Fakten durch: Brennweite, Lichtstärke, Sensorgröße, Ausstattung, Gewicht usw.
"Aber vergiss die Megapixel: Weniger ist mehr!"
Es wird eine Superzoom-Kamera von Canon, die Entscheidung war in 10 Minuten getroffen.

In der Zwischenzeit hat sich eine Kollegin zu uns gesellt.
"Kannst Du mir auch helfen?"
"Worum geht's?"
"Du hast mir doch meinen Laptop eingerichtet ..."
"Ahhh, das muss ja schon Jahre her sein."

Damals gab es Einschulungen für KollegInnen, die mit Windows, Outlook und Internet Explorer zu arbeiten begannen. In der Zwischenzeit überschlugen sich Betriebssysteme, Medienformate, Hard- und Software. Aber viele Kolleginnen konnten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten und wollten sich mit der digitalen Welt nicht anfreunden.

"Er braucht beim Starten so lange ..."
"Ist da XP oder schon Win 7 drauf?"
"Hmmm."
"Am besten wäre es, den Arbeitsspeicher zu erweitern."
"Laufen dann die Videos auch?"
"Bei youtube und so?"
"Ja, die würde ich gerne runterladen und auf CD brennen. Aber die stottern so."
"Ui, ui, ui. Das wird aufwendig."
"Ist eh alles für die Schule!"

Ich sehe einen halben Tag Arbeit auf mich zukommen und rudere zurück: "Ich weiß nicht, ob ich das alles hinkrieg. Bei Win 7 habe ich das selbst noch nicht probiert."

Wir sind im Durschnitt 50+ und zu zwei Drittel weiblich. Wie viele Frauen in diesem Alter kennen Sie, die von youtube Hörtexte für den CD-Player runtersaugen wollen? Und auch können! Rippen, normalisieren, umformatieren, brennen.

Bei uns werden weder die Computer gewartet noch die Nutzer weitergebildet. Das passiert alles von alleine, oder gar nicht.

Eher zweiteres. Und so entfliehen wir dem Fortschritt nach hinten.

Beim Verlassen des Schulgebäudes sticht mir ein hell beleuchtetes Klassenzimmer ins Auge. Also gehe ich den Gang nach hinten, um die Lampen abzudrehen, die Umwelt zu schonen und der Schule ein paar Cent zu sparen.

Irrtum. Ein Kollege räumt die Klasse zusammen. Richtet die Bänke schnurgerade aus, löscht die Tafel, entfernt die Abfälle vom Boden.

"Ich muss die Schüler beschämen", erklärt er mir ins fragende Gesicht. Er hatte versucht, ihnen klar zu machen, dass ihr Klassenzimmer ihr Wohnraum ist. Dass eine aufgeräumte Umgebung zum Wohlbefinden beiträgt. Dass sie Verantwortung für ihre kleine Welt übernehmen sollten.

Sie haben einen Schweinestall hinterlassen. Also setzt er einen neuen Schritt, einen unkonventionellen.

Ich melde Zweifel an. Er erklärt mir sein Verhältnis zur Klasse:
"Ich möchte sie ganzheitlich als Menschen betrachten, da braucht es viele Schritte ... aber es wirkt. Letztes Mal bin ich ein paar Minuten weggegangen, und siehe da: Sie waren auf ihren Plätzen und haben konzentriert gearbeitet. Weißt du, das sind schöne Momente."
"Diese Klasse? Die probiert doch alles, um vom Lernen abzulenken."
"Deswegen suche ich neue Zugänge. Zum Beispiel lasse ich sie am Anfang der Stunde zum Grüßen nicht aufstehen, ich bitte sie, die Augen zu schließen und sich zu entspannen. 80, 90 Sekunden hören sie in sich hinein, atmen durch, schalten ab ... dann können sie wieder arbeiten."

Ich höre gespannt und interessiert zu. Handeln würde ich so nicht. Der Kollege lebt seine Einstellung, aber kann man diese lehren und an (junge) Kollegen weiterempfehlen und weitergeben? Ist sie sinnvoll oder ist es besser, klar Position zu beziehen: Die Räume müssen aufgeräumt werden, am Anfang der Stunde muss gegrüßt werden, Arbeit muss gemacht werden. Punkt.

Wir haben Verständnis für alles, sogar für einander, aber gemeinsame pädagogische Linie finden wir keine. Haben wir keine. Das verwirrt, glaube ich, unsere Kinder, zutiefst.

Zweite Stunde, geteilte Klasse. Niemand mag vorne sitzen. Fünfzehnjährige schon gar nicht.

Ich schreibe alle neuen Begriffe an die Tafel, diese füllt sich allmählich nach unten an.

Schülerin aus der dritten Reihe:
"Ahhh ... könnten Sie vielleicht die Sessel von der Bank vor mir herunternehmen, ich sehe nicht drüber?"
Ich schaue etwas gestresst von der Tafel zur Schülerin:
"Ich glaube, wir bräuchten einen Diener, oder?"
"OK, ich kann's auch selber machen."
"Gute Idee."

Da flötet eine kecke Schülerin halblaut aus der letzten Reihe:
"Wetten, für MICH hätte er's gemacht!"

"Bist du sicher, SCHATZI?"
A propos:
Wo sonst - ausser in Gefängnissen - kann man so bequem sitzen? Eine Wohlfühloase, oder?


LehrerInnensessel:

Lehrersessel


SchülerInnensessel:

Schule101

Auf meinem Tisch liegt ein fremdsprachiger Text. Eine verhinderte Kollegin bittet mich, ihre Klasse für eine Stunde zu übernehmen:
"Lass' dir vom Urlaub erzählen, ich bin damit nicht fertig geworden."

Ich gehe in eine sehr beliebte, interessierte und engagierte Klasse und spreche kein Wort Deutsch. Die Jugendlichen (16-17 Jahre) kennen mich nur oberflächlich, eher vom Sehen als vom Hören, und steigen sofort auf meine Fragen ein.

"Ich war in Kairo, aber nicht bei den Pyramiden", beginnt ein auffallend hübsches Mädchen mit Kopftuch.
"Sondern?"
"Am liebsten hätte ich ein Zelt am Tahrir-Platz aufgestellt, so packend ist die Atmosphäre dort. Du bist nur ein paar Minuten dort und schon sprechen dich die Menschen an, sie berichten von ihrem Leben, ihren Problemen ..."
"Worum geht es da? Und akzeptieren sie dich als Ausländerin?"
"Ich spreche Arabisch ... und natürlich haben sie mich vorher kontrolliert, da sind ja auch Leute, die Unruhe stiften wollen. Also sie reden von ihren Alltagssorgen, zum Beispiel, dass sie zu wenig verdienen, es geht ums einfache Leben."
"Auch um Freiheit?"
"Auch. Aber mehr um Abrechnung mit der Vergangenheit. Viele wurden in den letzten Jahren unterdrückt."

Ich könnte mit dem Mädchen stundenlang diskutieren, sie spürt, dass sie von einem historischen Schauplatz berichtet. Leider werden manche Mitschüler unruhig, weil sie nicht persönlich involviert sind. Längeres, passives Zuhören gelingt auch den vorbildlichsten Jugendlichen nicht, deswegen wechseln wir zu anderen Urlaubserinnerungen: Kroatien,Türkei, Kanada. Richtig spannend wird es wieder, als ein Mädchen von Norwegen zu erzählen beginnt.
"Du warst in den Ferien in Oslo?"
"Ja, aber eine Woche vor dem Anschlag."
"Und?"
"Kopenhagen ist schöner."

Globalisierung ist Realität.

Montag ging es los - Schulbeginn.

07.30: Eröffnungskonferenz.

Kurze Vorstellung der neuen Kolleginnen, die angesichts der chaotischen Drängerei im überfüllten Saal ratlose Gesichter machen. Die Frau Direktor nimmt Nervosität aus dem Spiel: "Im Durchschnitt ist das unser vierzigster Schulbeginn - was soll ich Ihnen Neues erzählen?"
Im Schnitt sind wir fünfzig Jahre alt und seit unserem 6. Geburtstag starten wir jeden Herbst in ein neues Schuljahr.

Verkündigung wichtiger Termine.
Dann geht es in die Klassen.

Ich habe noch Zeit bis zu den ersten Wiederholungsprüfungen und entdecke auf meinem Schreibtisch ein kleines buntes Papier - ein Los der Österreichischen Lotterie: "3000 Euro - ein Leben lang", verspricht die Aufschrift, wenn man die richtigen Symbole freirubbelt.

Das wäre eine verlockende Alternative zum Schulbeginn. Eine liebe Kollegin hat unsere ganze Tischreihe damit beschenkt und meint: "Ich hab's gut, ich gehe jetzt in Pension. Für euch habe ich diese Lose gekauft ..."

Danke. Ich rubble. "Leider kein Gewinn".
Eine andere Kollegin beugt sich über die Tische: "Morgen nach der Schule gibt's Champagner bei Christine, kommst Du?"
"Na sicher."
Christine feiert ihre Pensionierung. Jedes Jahr feiert sie. Seit Jahren.
"Aber wir müssen ins Bergwerk", höre ich eine Stimme beim Ausgang.

Enthusiasmen des Schulbeginns.

Ganz am Anfang war das A.

Allah.
All.
Allmacht.

Dann kam Adam: "Na? Sag ja!"
Mama: "Na!"

A Drama. Fatal.


Kollege A. schwimmt als Chorleiter auf der Erfolgswelle.
Kollegin B. ist als Fotokünstlerin anerkannt.
Kollege C. probt mit seiner Band für die nächste CD.
Kollege D. schreibt an seinem dritten Lehrbuch.
Kollege E. trainiert zwei Athleten für die Olympiade.
Kollegin F. führt Eingeweihte durch den Dschungel Borneos.
Kollegin G. organisiert Entwicklungshilfe in Uganda.
Kollege H. hält an der Uni beliebte Seminare.
Kollege I. berät Firmen bei der Installation von Intranetzen.
Kollege J. schlichtet als Moderatorin Streitfälle.
Kollegin K. fungiert als gerichtlich beeidetet Sachverständige.
Kollege L. keltert ausgezeichnete Weine.
Kollege M. baut zuhause ein Cembalo aus dem Barock nach.
Kollegin N. studiert Translationswissenschaft.
Kollege O. repariert alte (und neue) Motorräder.
Kollege P. züchtet seltene Fische.
Kollegin Q. leitet eine Theatergruppe (mit Ex-SchülerInnen).
Kollegin R. ist Segelfliegerin, Hobbypilotin und Freizeitkapitän.
Kollege S. gibt Gratisnachhilfe in eh allen Fächern.
Kollege T. gehört dem Alpenverein.
Kollegin U. schreibt Gedichte und Kurzgeschichten. Französisch.
Kollegin V. dient Gott und der Kirche.
Kollegin W. baut eine Schule in Brasilien.
Kollegin X. steht dem Schulverein vor.
Kollege Y. dient als Reserveoffizier.
Kollege Z. ist ein fauler, weltfremder, unfähiger Sadist ... und steht in der Zeitung.

Wie können wir Z. loswerden und das Engagement der anderen auf den Unterricht lenken?

Schöne Ferien,

glg teacher

Mitte Juni stellen die österreichischen Volksschulen die sogenannte AHS-Berechtigung für SchülerInnen der 4.Klasse aus. Diese ist bei der Aufnahme in der AHS (Allgemeinbildende Höhere Schule = Gymnasium) vorzulegen. Sie wird in der Regel erteilt, wenn ein Kind nur "Sehr gut und "Gut" im Zeugnis stehen hat.

Bei Nichtberechtigung können die betroffenen Kinder zu einer Aufnahmsprüfung an die gewünschte AHS kommen.

"Frau Kollegin", spricht der Direktor eine junge Deutsch- und eine ebenso unerfahrene Mathematik-Lehrerin seiner Schule an. "Könnten sie die fünf angemeldeten Kinder auf ihre AHS-Tauglichkeit hin überprüfen?"

Die Jungen widersprechen nicht, können nicht widersprechen, und beginnen zu rotieren. Sie haben diese Prüfung noch nie gemacht und wissen nicht, wo sie ansetzen sollen. Die beiden Kolleginnen, die im Vorjahr getestet haben, sind auf Schullandwoche weggefahren.

Was tun?

Eine der beiden ruft eine Freudin an, die in einer Volksschule unterrichtet, und lässt sich erklären, was sie in den letzten Monaten so gelernt haben. Dann mischen sie ihre spärlichen Erfahrungen aus den ersten Wochen im Gymnasium dazu und entwerfen die Testaufgaben.

Alle fünf sind negativ. Schriftlich und mündlich.

Die Deutschkollegin ist enttäuscht und unsicher: "Glaubst Du, waren wir zu streng?"
"Schau, wenn die Volksschullehrerin keine Berechtigung ausspricht, dann hat das meistens triftige Gründe. Die kennen ihre Kinder ja in- und auswendig."

Der Witz ist ein anderer.

1. Wären die betroffenen Kinder in einer anderen ("progressiven") Volksschule gegangen (oder hätten eine mildere Lehrerin gehabt), dann hätten sie die Berechtigung automatisch erhalten. Weil es Schulen gibt (und Lehrerinnen), die allen Kindern ausschließlich sehr gute Noten geben.

Diese Noten haben keine Aussagekraft. Sie sind nichts wert.

2. Wären die betroffenen Kinder in einem anderen Gymnasium an eine mildere Kollegin geraten, dann hätten sie bei gleichen Leistungen die AHS-Berechtigung bekommen.

Die Aufgaben bestimmen die Note, nicht die Kinder.

Der Zufall regiert.

Früher hat eine standardisierte Aufnahmsprüfung entschieden, ich habe sie mit knapper Not bestanden.
"Wie viel ist sieben plus 28?", hat mich ein strenger unbekannter Herr damals gefragt. Ich wäre bald durchgefallen, weil wir zwar "Und"-Rechnungen trainiert hatten, aber die Worte "plus" oder "minus" nie verwendet.

Die Aufnahmsprüfung hat man abgeschafft, weil keine Prüfung der Welt objektiv und zuverlässig die Richtigen auswählen könnte. Keine. Darum machen das jetzt zwei junge, unerfahrene Kolleginnen im Handumdrehen. Es ist ihnen unwohl dabei, aber wen schert das?

Fünf Kinder schert es. Sie werden in die Hauptschule gehen.

Das Ende des Schuljahres fordert heraus: Die Noten stehen fest. Die Temperaturen erzeugen Schweiß. Arbeiten will niemand mehr. Einige Schüler erscheinen erst gar nicht, andere bloß zur Unterhaltung. Zum mangelnden Interesse gesellen sich fehlender Druck und abwesende Motivation - Schule hoch drei.

In der vierten Klasse haben viele Schüler die alte Anstalt geistig bereits verlassen. Ich versuche das praxisnahe Thema "Berufsorientierung" auszuspielen.

1. "Für welche Ausbildungen habt ihr euch entschieden?"
Nach zehn Minuten ist das Kapitel durch. Keiner will einen Handwerksberuf erlernen. Alle haben allgemein- und berufsbildende höhere Schulen gewählt, die meisten bleiben bei uns im Gymnasium.

2."Nehmen wir Philipp. Was wird er in 10 Jahren sein?"
Das Spiel gefällt ihnen, als ich eine Wette vorschlage: "Jeder gibt einen Tipp ab ... mit einem Euro Einsatz. Wer Recht hat, kassiert die ganze Summe."
"Haha", meint ein Witziger, "wir vergessen das dann und Sie kassieren alles!"
"Na sicher", erwidere ich ironisch, "und was glaubst Du jetzt von Philipp?"
"Hmmm ... ich glaube, er wird ein Star."

Ich verstehe, er spricht von seiner Welt, der Welt der "screen junkies".
"Nein, nein ... der wird Lehrer, wie der teacher!"
Da müssen alle lachen, sogar ich.

"Nein wirklich. Er wird ein Star ... ein Pornostar."
"Wie kommst Du auf sowas?"
"Kennen Sie den Film vcxodkosf (unverständlich)?"
"Wie?"
Philipp will abwehren, wird aber niedergeredet.
" ... er hat den Film ... da scheißen zwei Frauen auf einen Teller und die essen dann das. Oder schmieren sich das überall hin."
Ich wende mich angeekelt und entsetzt ab: "Bitte kannst Du uns das ersparen?"
"Na gut, dann wird er halt Taxifahrer."

 

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