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cotopaxi

 
"Guttenberg behindert Unterricht - Facebook hilft" - das wäre eine Schlagzeile nach meinem Geschmack.

Seit Guttenberg interessieren sich meine SchülerInnen für wissenschaftliches Arbeiten. Echt.

Ich kläre den Unterschied zwischen Paraphrase und Zitat.
Eine Schülerin fragt nach:
"Muss da wirklich jeder Strich genau abgeschrieben werden?"
"Ja! Selbst Fehler müssen übernommen und mit [sic!] gekennzeichnet werden."

Das gefällt ihnen, das kommt an. Sie wollen Beispiele. Kriegen sie.

"Kennt Ihr auch ein Beispiel, wo es wirklich auf jedes Zeichen ankommt, z.B. auf jeden Beistrich?"
"Ja, das habe ich auf facebook gesehen: Komm essen wir Opa."
Es bleibt ruhig in der Klasse - ein klares Zeichen, dass ich die Sätze an die Tafel schreiben und betont wiederholen muss:
1. Komm, essen wir Opa!
2. Komm, essen wir, Opa!
Lachen bestätigt Verständnis.
"Hallo. Wir lernen von facebook - zum ersten Mal in meiner Karriere."
Sie applaudieren.
"Können wir endlich zu unserem Thema kommen?", drängt die Zeit vor der nächsten Schularbeit.
Nein, sie fragen mich aus bis zum bitteren Ende der Stunde.

Eben: "Guttenberg behindert Unterricht - Facebook hilft."

Ähnliches bei: http://xchange.twoday.net/stories/main

"Ich bin froh, dass sich meine Eltern nicht so auskennen."

Sarah ist ein Schatz. Sie gehört zu den Schülerinnen, die ganze Klassen managen. Sie sammelt das Geld für das Theater ab, sie organisiert die nächste Geburtstagsfeier, sie borgt ihre Unterlagen her ... sie ist ein Schatz.

Sarah gibt ihre Portfoliomappe ab und mir bleiben die Augen offen:
"Hey, das schaut ja suuuuper aus!"
"Ja. Aber mein Papa hat mir geholfen."

Sarahs Portfolio ist säuberlichst gelayoutet, fehlerfrei, in Farbe ausgedruckt und fein gebunden.
"Mein Papa ist so ein Perfektionist, so ein technischer. Er besteht drauf, dass die Kopf- und Fußzeilen passen, die Bilder ordentlich eingebunden sind, die Abstände stimmen ... und so halt."
Sarahs Nachbarin schaut uns über die Schultern und kommentiert neidlos:
"Pfau, da hast du ja Stunden gebraucht. Bin ich froh, dass sich meine Eltern nicht so auskennen!"

Das merke ich oft. Die Eltern kennen sich mit modernen Medien nicht aus und überlassen dieses weite Feld ihren Kindern.

Facebook? Keine Ahnung.
Online-Spiele? Nie gesehen.
Youporn oder youtube? Verwechselt. Bestenfalls.
Apps am Handy? Nie gehört.
Downloaden, streamen, formatieren. Was bitte?
Copy and paste? Was willst du?

Die Kinder sind froh, dass ihre Alten nichts checken. Das schafft ihnen digitale Freiräume, die es nie zuvor gegeben hat und heftig missbraucht werden. Eltern, die sich auskennen, greifen viel gezielter ein. Die anderen reden von Vertrauen und Toleranz - was sollen sie sonst tun?

Wer nichts weiß, muss alles glauben.

Die Sportlehrerin fährt mit meiner Klasse zu einem Wettkampf. Daher muss ich ihre SchülerInnen übernehmen.

Aus diesem simplen Tausch erwachsen mehrere Probleme:

1. Ich muss ihre Stunden übernehmen, aber ich darf nicht Sport unterrichten, ich bekomme nicht einmal den Schlüssel für die Turnsäle. Ich habe zwar - in einer anderen Funktion - als Basketballtrainer gearbeitet und ich darf auf Skikursen Gruppen über Buckelpisten jagen, aber Sport in der Schule: Nein. Sport ist gefährlich und viele Unfälle passieren beim Sport, deshalb: Finger weg.

2. Ich darf schon gar keine Mädchen beim Sport betreuen. Männer sind gefährlich. Ehrlich gesagt, ich habe die Umkleidekabinen noch nie von innen gesehen ... und das ist gut so.

"Herr Professor, bitte!", betteln mich die sechzehnjährigen Mädchen an, "wir müssen unbedingt proben!"

Elf der dreißig Mädchen wollen nächste Woche bei einem der zahlreichen Bälle die Mitternachtseinlage gestalten - sie tanzen und singen. Und die Choreographie ist noch nicht ausgereift.

"Ich habe keinen Schlüssel", versuche ich die einfache Tour.
"Den besorgen wir!"
"Der Saal ist gar nicht frei."
"Wir kümmern uns um den Tausch."

Also gut, ich werde wieder zwei Regeln auf einmal brechen. Die Tänzerinnen organisieren den Turnsaal, bauen die Spiegel und die Musik auf und legen los. Rechtlich gesehen mache ich Sportunterricht mit Mädchen. Geht gar nicht. Gleichzeitig bin ich mit der anderen Klassenhälfte in einem Lehrsaal und komme dort meiner Aufsichtspflicht nach. "Bilokation" nennen wir das Wunder scherzhaft, was beweist, dass es immer wieder vorkommt.

Schule würde nicht funktionieren, wenn wir nicht mehr riskierten als das Gesetz zulässt. Wenn alles gut geht, spricht keiner davon. Wenn etwas passiert, ist der blöde Lehrer dran. Verantwortungslos. Pädagogisch?

Ich kann mich auf meine Mädchen verlassen. Meistens auf viele. Alle kenne ich gar nicht, es ist ja nicht meine Klasse.

P.S.: Sie proben bis in die Pause hinein. Und sie werden noch ein paar Stunden brauchen, so wie ich das sehe. Aber es schaut gut aus ... und sexy. Aber das sollte ich vielleicht auch nicht bemerken.

Eines unserer schulischen Hauptprobleme besteht darin, dass Jugendliche - nicht anders als Erwachsene oder Unternehmen - intuitiv nach dem ökonomischen Prinzip vorgehen. Sie sehen im Unterricht keine persönliche Bereicherung sondern eine Arbeit, bei der sie mit minimalem Aufwand ihre Ziele erreichen wollen.

Das streiten die meisten SchülerInnen gar nicht ab.

Ich lege es offen und knüpfe eine Frage daran:

"Könnt ihr mir ein Beispiel für das Minimalprinzip aus unserem Wirtschaftsleben geben?"
"Der Kik."
"Genau. Die verkaufen T-Shirts um zwei Euro - dafür müssen alle Aufwendungen auf das Minimum reduziert werden ... die billigsten Rohstoffe, die günstigsten Standorte, minimaler Service ... wo sonst wird noch gespart?"
"Beim Design ... beim Personal ... überall."

"OK. Und ein Beispiel für das Gegenteil, das Maximalprinzip?"
"Rolex, oder?"
"Gut. Die stellen mit extrem hohen Aufwand tolle Dinge her. Im wesentlichen die gleichen Produkte wie Swatch - Uhren."
"Ja, aber sauteure!"

Keiner steht auf Billigklamotten, aber das Beispiel "Swatch" bereue ich schon nach fünf Sekunden. Ich lenke schnell ab:

"Und wie schaut es mit euch in der Schule aus? Seid ihr bereit für hohen Aufwand, damit ihr beste Ergebnisse erzielt?"

Es bleibt ruhig in der Klasse.
Ich fürchte, der Vergleich mit "Swatch" wird hängenbleiben: Cool und mit minimalem Aufwand richtig Geld machen.
Minimalprinzip ist geil.

Ich habe mir ins Knie geschossen, oder?

Sam kommt aus der ostafrikanischen Oberschicht und hat als Vater eine klare Meinung zur Erziehung: "The buttock is the correction point."
Er hat - wie alle Mitglieder seiner Großfamilie und seiner Nachbarschaft - die Pflicht, die Kinder zu korrigieren. Das bedeutet für ihn, dass auch die Lehrer die Pflicht (nicht bloß das Recht) haben, Kinder zu schlagen, wenn sie falsche Dinge tun. Es geht um die ganze Gesellschaft, jeder hat sich als Teil der Gemeinschaft an deren Regeln zu halten: "The buttock belongs to the government."

Meinen Einwänden, dass unsere Lehrer - ebenso wie die Eltern - keinesfalls das Recht haben, andere zu schlagen, schon gar nicht wehrlose Kinder, entgegnet er mit einem müden Lächeln: "Yes, I know - you make hooligans!" Er kennt die Geschichten von betrunkenen, stänkernden, randalierenden, prügelnden Jugendlichen aus den europäischen Medien.

Die Summe der Gewalt ist konstant. Wenn die Erwachsenen ihre Macht aus der Hand geben, dann übernehmen die Kinder sie. Das ist unverantwortlich, das führt zu Chaos und Gewalt, meint er.

Wie erkläre ich mir den Erfolg der "Mutter des Erfolgs"? Die Yale-Professorin Amy Chua hat ihre chinesischen Erziehungsvorstellungen in eine fremde, westliche Welt getragen und dort eine Welle des Schocks ausgelöst. Der hochgelobte Drill zum Gehorsam gehört in asiatischen Kulturen zum pädagogischen Alltag, im Westen kann man damit Erfolg, aber keine Anerkennung gewinnen.

Mein persönlicher Schluss aus Sam und Amys Erziehungscredo ist deprimierend: Gibt es keine pädagogischen Grundgesetze?

Offensichtlich nicht.

Pädagogik gleicht einem Religionsgebäude, das Tabus und Gebote erzeugt, aber unfähig ist, Handlungsregeln aufzustellen, die über alle Kulturen und Zeiten Gültigkeit besitzen.

Pädagogik ist Religion, keine Wissenschaft.
Wir tun, was wir glauben, nicht, was wir wissen. Und alle glauben zu wissen.

Aber nur wir haben Recht, schließlich sind wir die fortschrittlichen Europäer.

Tief in unserer EDV-Verwaltung verstecken sich ein paar Telefonnummern, die wir im Notfall (z.B. bei Erkrankung eines Schülers) anrufen können. Meistens erreichen wir die Eltern oder Großeltern.

Erste Nummer gewählt:
"Hier spricht die Mailbox von K., hinterlassen Sie eine Nachricht."
Die Notfallnummer gehört dem Schüler selbst, sein Handy bellt.

Zweite Nummer gewählt:
"Guten Tag, Städtisches Theater. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?"

Eher gar nicht.

Kann manchmal lustig sein. Im Ernstfall nicht.

Der Niveauverlust scheint tiefer zu gehen als wir das wahrhaben wollen.

Eine Kollegin aus dem Werkunterricht:
"Früher haben wir ein Paar Socken gestrickt ..."
Da muss ich schon lachen: "Wer strickt denn heute noch?"
"Lustigerweise gibt es da eine Renaissance ... aber was ich sagen wollte ... heute geht das aus verschiedensten Gründen nicht mehr."
"Das will ganz einfach niemand mehr!"
"Später haben wir nicht ein ganzes Paar gestrickt, mit Fersen und Zehen und so ... sondern nur mehr einen Socken, einen Nikolaussocken."
"Und heute?"
"Heute geht es gar nicht mehr. Und weißt du warum?"
"Weil sie nicht wollen!"
"Sie KÖNNEN nicht. Stricken, das ist motorische Feinarbeit, da muss man mit Geduld üben und üben, das muss man automatisieren."
"Wozu? Wenn das sinnlos ist!"
"Das Stricken an sich braucht heute niemand mehr zu lernen. Oder das Häkeln. Darum geht es nicht, es geht um das Training der Feinmotorik, die Koordination der Sinneswahrnehmungen ... und es geht um die Schulung der Geduld. Natürlich geht es auch um Fleiß, um Durchhaltevermögen, um Genauigkeit ..."
"Das macht doch keinen Spaß!"

Da schaltet sich eine Sportkollegin ein:
"Mich wundert das nicht. Von 30 Anfängern können oft nur zwei oder drei einen Purzelbaum schlagen. Wenn es ums Klettern oder Jonglieren geht, dann haben wir das gleiche Problem. Sie wollen nicht so lange üben bis es funktioniert."
"Stimmt. Sie fangen an, probieren es ... und schmeißen nach drei Minuten alles hin. Weil es keinen Spaß macht. Zumindest nicht sofort. Und wenn ihnen Fehler passieren, dann wollen sie das nicht verbessern. Sie sind schnell mit irgendeinem Ergebnis zufrieden. Es mangelt an Genauigkeit, einfach am Willen."

"Vielleicht wollen sie einfach nur nicht stricken. Und klettern. Und ...."

"Die Schüler werden immer dümmer, die Leistungen immer schlechter", behaupten viele KollegInnen und stehen nicht an, ihr Urteil zu begründen:
"Wenn ich heute die gleichen Prüfungsaufgaben stelle wie vor zehn Jahren, dann fallen mir die Hälfte der Kinder durch."
Ich übertreibe gerne und füge hinzu: "Ich muss mich bei allen Schülern entschuldigen, die ich vor zwanzig Jahren durchfallen ließ - sie würden heute im guten Mittelfeld liegen."
Eine Mathe-Kollegin: "Ich habe auch viele Aufgaben gekürzt und vereinfacht. Sonst schaffen sie es nicht mehr."

Kurz: Wir haben im Gymnasium den belegbaren Eindruck, dass das Niveau erheblich gesunken ist. Wir können es mit Testergebnissen der Vergangenheit nachweisen.

Auch die KollegInnen in den Hauptschulen argumentieren so: "Eigentlich kann ich in manchen Klassen nur mehr erziehen, fachliche Arbeit kommt viel zu kurz. Es gibt massive Sprachdefizite, da können wir nicht weiterkommen."

Bildungsforscher behaupten das Gegenteil: "Wenn ich heute die jungen Leute selbstverständlich Englisch reden höre, wenn ich ihren Umgang mit der Technik beobachte, wenn ich ihre sozialen Kompetenzen berücksichtige, dann ist das Bildungsniveau erheblich gestiegen!"

Wie erklärt man diesen Widerspruch?

Es ist ein statistischer Effekt, der nicht unmittelbar wahrgenommen wird. Heute gehen nicht 5 % der Kinder, sondern 50% ins Gymnasium. Aus der Eliteschule von damals ist eine höhere Gesamtschule geworden. Die LehrerInnen müssen sich an das durchschnittliche Niveau anpassen, ihre Ansprüche senken. Aber viel mehr Kinder erwerben im Gymnasium viel mehr Qualifikationen, sodass im Durchschitt das Niveau merkbar anzieht. Die LehrerInnen nehmen primär die sinkenden Einzelgebnisse wahr, nicht den steigenden Gesamtwert in der Gesellschaft.

Da die Hauptschulen (zumindest in den Städten) zu Restschulen erodiert sind, spüren die LehrerInnen auch dort das sinkende Niveau. Früher waren auch gute und sehr gute Kinder in ihren Klassen, sie haben dort mit schönen Leistungen geglänzt und beste Eindrücke hinterlassen. Heute gehen auch mittelmäßig begabte Kinder ins Gymnasium und drücken die Ergebnisse runter - auf beiden Seiten.

Die Folge: Das Bildungsniveau nimmt zu, trotzdem jammern alle Lehrer über sinkende Leistungen und sind frustriert. Die Arbeitgeber auch. Die Unis auch.
Eine komische, eine bedrückende Statistik. Oder irre ich mich da gewaltig?

"Ich hätte mich mehr mit meinem Kater beschäftigen sollen", feixt eine arrivierte Kollegin, "das hätte allen mehr gebracht."

Ich komme in die vierte Klasse und R. (15 Jahre) steht mir neugierig im Weg:
"Waren Sie beim Frisör?"
"Merkt man das?"
"Hmm ...."
"Ich wollte so eine Frisur wie du", versuche ich an R. vorbeizukommen.
"Da brauchen Sie aber ein Gel!"
"Aha?"
"Ich habe eines mit Pheromonen drin!"
"Ehrlich? Damit dann alle Mädels auf dich fliegen? Hast Du das überhaupt nötig?"
"Nein. Jetzt nicht mehr. Es hat schon gewirkt!"

Zwei Stunden später sehe ich R. wieder, mit einer kleine Freundin an der Hand.
Ohne Bemerkung komme ich einfach nicht vorbei:
"Vorsicht, Mädel! Er hat sein Gel im Haar."
R. krümmt sich vor Lachen, dann hat er etwas zu erklären ....

Ich bin auf die nächste Stunde gespannt.

Eine Gästehaus in Montevideo. Der Besitzer nimmt einen Kugelschreiber und schraffiert vor den Augen der Besucher die halbe Karte: "No go area."
Wenn es dunkel wird, geht man dort nicht hin. Auch erwachsene Männer nicht. Zu gefährlich.

Vielleicht kennen Sie Ähnliches aus Sao Paulo, aus Quito oder aus Miami: "No go area".

Manche unserer SchülerInnen kommen mit dem Zug. Sie müssen vom Bahnhof zur Schule. Im Winter geht die Sonne später auf und früher unter. Sie gehen durch eine Unterführung, sie kommen an einem Park vorbei. Sie treffen sich in der Allee vor der Schule.

Jugendliche ziehen Jugendliche an. Es prallen Welten aufeinander.
"Hast Du Zigarette?"
"Brauchst Du was?"
"Los. Handy her."
Schlägereien, Pöbeleien, Diebstahl.
Kürzlich war auch Raub dabei. Mit Waffen wurde gedroht. Der Notruf gewählt.

Die Polizei geht Streife, sie nimmt auch Täter mit: Eine Bande von Fünfzehnjährigen.
Uns sagt sie resignierend: "Wir können nicht überall sein. Das ist keine Gegend für eure Schüler."

Der Bahnhof einer mitteleuropäischen Stadt wird am helllichten Tag zur No-go-area.
Na danke.

Ayse ist verstummt. Seit sechs Wochen spricht sie nicht mehr. Kein Wort.

Nein, nein, ihre Stimme ist in Ordnung. Sie kann laut lesen, sie geht einkaufen, sie verständigt sich mit ihren MitschülerInnen.
Nicht mit uns.

Ayse ist ein schwaches, blasses, gutes Mädchen. Irgendein Problem drückt ihr die Kehle zu. Wir erfahren es nicht. Sie schweigt. Wir laden ihre Eltern vor, wir schicken sie zum Psychologen - sie schweigt. Ihre Eltern auch, Ehrensache?

So entstehen Gerüchte:

"Ich glaube, es geht um das Verschleiern. Ihr Vater dürfte ein sehr gläubiger Muslim sein und sie sollte längst das Kopftuch tragen."
Ihr Vater macht einen vernünftigen Eindruck und versichert uns, das Mädchen nicht zu zwingen.

"Oder es hat etwas mit der Aufenthaltsgenehmigung zu tun."
Man liest ja in den Zeitungen, dass in Österreich Kinder aus den Klassen gerissen werden, um sie in ihre angebliche Heimat abzuschieben.

"Ich habe gehört, dass sie verheiratet werden soll."

Gerüchte und Betroffenheit. Ehrliche Antworten erhalten wir von niemanden. Wir sollen alles richtig machen und alles gut, aber weder Eltern noch Behörden oder Ärzte geben uns brauchbare Anhaltspunkte.

Ayse trägt die ganze Last eines Flüchtlingskindes aus dem Balkankrieg: Armut, Gewalt, Traditionen, Religion, Fremdheit, Einsamkeit, Sprach- und Integrationsmängel. Ein ernstes, muslimisches Mädchen in einer libertinen Spaßgesellschaft.

Die Klassenkameraden haben sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Sie wird übersehen. Jetzt auch nicht mehr gehört.

Letzte Stunde bleibt sie bei mir stehen. Ich sehe in ihre wässrigen Augen. Ich spüre, dass sie etwas sagen will, aber kein Ton entkommt ihrem Mund. Angewurzelt bleibt sie stehen, schaut mich an. Ich rede, sie nicht.

"Wie sollen wir mit ihr umgehen?", fragen wir einander Achsel zuckend.
"Ich lasse ihr noch Zeit, sie braucht jetzt Schonzeit, keine Schule", verteidige ich meine Strategie, keine Mitarbeit und keine Wiederholung von ihr einzufordern. Ich setze darauf, dass sie zu ihren guten Leistungen zurückfinden wird.
"Ich nicht", erläutert eine Kollegin ihr gegenteiliges Vorgehen. "Mir ist es gelungen, sie aus ihrer Lethargie herauszureissen. Ich hole sie regelmäßig in die Realität zurück. Ich fordere sie auf, ich binde sie ein, ich lass' nicht nach. Es funktioniert."


Was ist richtig, was ist gut?
Auch die Schulpsychologin findet keine klare Antwort.

Zwei Monate später: Ayse spricht wieder. Lacht wieder. Arbeitet wieder. Von einem Tag auf den anderen. "Das war eine private Sache," erklärt sie.

Offenbar ist ihre Strategie des stummen Widerstandes aufgegangen. Vermute ich.

 

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