Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
cotopaxi

 
Murat hat sich durchgekämpft und sein BWL-Studium erfolgreich abgeschlossen. Auf der Suche nach Praktika und Jobs stößt er an die Grenze, die er schon an der Schule zu spüren bekam: Kein Vitamin B.

"Was meinen Sie mit Vitamin B?" fragen mich die SchülerInnen.
"B wie Beziehung. Protektion."
"Ohhjaaa", kommt es im Chor zurück.

Beim Projekt "Betriebspraxis" im Rahmen der Berufsorientierung sollen die SchülerInnen drei Tage Praxisluft in einem Unternehmen schnuppern. Marlena fuhr zum Flughafen, Sarah in ein Hotel, Charlotte in eine Apotheke. Murat zählte Schrauben beim Baumax. Natürlich haben die Eltern ihre Beziehungen spielen lassen ... manche mehr, manche weniger. Manche haben niemanden.

Murat hat an der Uni Anschluss gesucht, wollte sich politisch engagieren, Netzwerke knüpfen. Die christlichen Wurzeln der Volkspartei wären religiöser Verrat gewesen, sozialdemokratische oder grüne Wirtschaftsideen sind ihm fremd geblieben ... Murat ist bei den Freiheitlichen gelandet.

"Ist dir nicht die ablehnende Einstellung zu den Immigranten zuwider?" frage ich ihn.
"Ich habe keine Alternative gesehen ... und ohne Protektion geht gar nichts."

Wenn ich erkläre, dass Schule nicht funktioniert, weil der Leistungsgedanke zu kurz kommt - bei Schülern wie bei Lehrern - dann erwidern mir die jungen Leute: "Glauben Sie wirklich, dass Leistung in unserem Leben eine Rolle spielt?"

Vitamin B zählt. Eine Droge, die wirkt. Früher nannten wir es "Korruption", heute "Networking". Und es ruiniert die Leistungsbereitschaft schon in der Schule und an der Uni. Von Integration reden wir gar nicht.

Mein Lieblingsslogan fällt mir ein: Geht's der Wirtschaft gut, geht es allen gut.

Wir haben beide Typen im Lehrkörper, USA- und KOREA-Lehrer.

A. ist ein beliebter Lehrer. Er verfügt über einen Mörderschmäh, da wird gelacht, wo es geht. Er verkauft sich und seine Fächer blendend. Er sieht auch so aus: A&F-Shirt, Boss-Jeans. Manchmal Converse, manchmal Maßhemd. Die Kinder mögen ihn, die Eltern ebenso.
"Meine Luna möchte in seine Klasse kommen, deswegen haben wir sie bei euch angemeldet", gesteht eine Mutter.
"Aus meinen Stunden vergessen sie nichts!" trompetet A. und lacht schelmisch-kokett, wenn er hinzufügt: "Wer nichts lernt, kann nichts vergessen."
Understatement mit Stil und Selbstkritik.

Entspannt sitzen die SchülerInnen auf ihren Plätzen, trinken, kauen oder spazieren durch die Klasse. "Hast Du kein Buch mit? OK, hol' dir eines aus der Bibliothek." Alles locker, alles easy. Cool.

Die SchülerInnen wählen aus, was sie gerne bearbeiten wollen; Prüfungen hat er durch Wiederholungen ersetzt. Gute Noten ersparen viel Mühe auf allen Seiten. Ein Erfolgstyp, ein USA-Lehrer.

B. unterrichtet in der gleichen Klasse, aber mit ganz anderen Ansprüchen und Zielen. Es herrscht gespannte Ruhe, keiner wagt es, während des Unterrichts zu essen oder zu trinken. Oder gar zu tratschen oder herumzuwandern. Zu spät kommt auch niemand, das endet nämlich in einem "freiwilligen" Referat. Oder einer Prüfung. Jede Stunde eine Hausübung, jede Woche eine "Lernzielkontrolle", ständige Vorladungen der Eltern, wenn sich Ansätze von Problemen auftun. B. macht sich überall unbeliebt, weil sie streng Fleiß, Disziplin und harte Arbeit einfordert - von allein Seiten. Auch von sich selbst, aber das bewundert keiner. Eine KOREA-Lehrerin eben. Nur ohne Anerkennung.

Der USA-Lehrer surft blendend durch Leben, vermeidet Probleme, ist beliebt. Die KOREA-Lehrerin sorgt für gute Ergebnisse, aber ausser PISA liebt sie niemand.

Entscheiden sie selbst:

USA, freie Wahl, viel Spaß.
KOREA gewinnt PISA. Anstrengend.

ÖSTERREICH hat keine Richtung, kalt-warm. Wir suchen den Kompromiss dazwischen und finden ihn nicht.

Einmal im Monat liegen die ÖPU-Nachrichten in meinem Postfach. Natürlich bekommen LehrerInnen nicht nur ÖVP-nahe, konservative Frohbotschaften, auch die Sozialdemokraten, die Grün-Alternativen und wer-weiß-ích-noch bringt seine politische Meinung schriftlich ins Lehrerzimmer.

Die März-Ausgabe nimmt wieder klare Positionen ein:

1. Die österreichische Schule ist bei weitem nicht so schlecht wie sie von den Medien gemacht wird.
2. Die Gesamtschule bringt keine Lösung für unsere Probleme.
3. Es gibt Schulsysteme, die hohe Leistungen bringen und andere, die Kinder glücklich machen.
4. Österreichische (und auch deutsche) Schüler mögen ihre Schule viel mehr als z.B. finnische. s. Unicef-Studie: An overview of child well-being in rich countries.

In ein paar Tagen werde ich die rote Gegenmeinung kennenlernen.

Das ist nämlich Schulpolitik: Ein parteipolitisches Hick-hack. Egoistische Positionskämpfe. Radikale Widersprüche.

Institutionalisierte Ratlosigkeit mit Überzeugungscharakter.

Wir LehrerInnen glauben nämlich nicht, dass sich die Parteien um das Wohl der Kinder kümmern. Glaubt das irgend jemand noch?

Versuchen Sie einmal, einen Fünfzehnjährigen zu überreden, mit schwarzem Sakko und Krawatte in die Schule zu gehen! Eine Vierzehnjährige mit knielangem Rock, weißer Bluse, weißen Socken und flachen Sandalen. Unsere Jugend in Schuluniformen zu zwingen. Versuchen Sie es.

Heute waren hunderte genau so adjustiert.

"Wo trefft Ihr Euch?", frage ich, nachdem ich erfahre, dass ein "flashmob" über facebook geplant wurde.
"Treffen? Nirgends! Das ist nur so ein Spaß."
"Und warum gerade in diesem Aufzug?"
"Kennen Sie nicht Hau-ei-met-yoa-masa?"
"Wie bitte?"
"Die Fernsehserie."
"Welche?"
"H o w - I - m e t - y o u r - m o t h e r! Montag 14.50 auf ORF. Das ist die geilste Serie überhaupt."
"Nööö, ich schaue nicht fern ... nicht am Nachmittag."
"Da hat der ..... (Name unverständlich) immer solche Klamotten an. Urcool!"
Aha.

Wenn es Hollywood vormacht und facebook ruft, dann geht das. Krawattchen, Söckchen ...

Aber keine Sorge: Die Jugendlichen werden weder vom Fernsehen noch vom Internet beeinflusst. Sie unterscheiden nämlich klar zwischen Fiktion und Realität. Habe ich in Medienpädagogik gelernt!

Ich erlebe das Gegenteil: Sie werden kaum mehr von ihren Eltern beeinflusst.

Ich frage mich, ob solche Zustände auch außerhalb Österreichs denkbar sind?

Es gibt Güter und Leistungen, die ihr Geld wert sind.
"Heute" ist eine Tageszeitung, die zu diesen Produkten zählt.
"Heute" ist ein Gratisblatt (!), das im Großraum Wien die öffentlichen Verkehrsmittel und Schulen verschmutzt.

"Heute hat es "Heute" wieder geschafft, uns richtig einzutunken", sagt ein angewiderter Kollege, der mit der Bahn zur Schule kommt und der geschenkten Farbpostille ins Maul gesehen hat.
Ich kenne die lehrerfeindliche Blattlinie und frage nur resigniert nach:
"Warum greifen sie uns permanent an?"

Mein Verdacht wird erhärtet ... und viele meiner KollegInnen sehen das ähnlich.

"Heute" lebt als Gratisblatt von Inseraten. Wovon auch sonst? Unzählige Seiten werden von den Regierungsstellen Wiens und Österreichs gekauft. Das rote Wien und das rote Bildungsministerium beziehen über dieses fragwürdige Massenblatt Stellung gegenüber den schwarzen Lehrergewerkschaften. Ein Machtkampf auf Kosten von SchülerInnen, LehrerInnen und qualitativen Unterricht. Sie kaufen mit Steuermillionen Werbeseiten, die eigentlich niemanden interessieren. Sie bezahlen Jubelmeldungen, die eigentlich niemand liest.

"Die Lehrer müssen weich geschossen werden", lautet der Tenor im Lehrkörper.

Wie darf ich mir das vorstellen? Sitzen da der Bundeskanzler und unsere Ministerin bei den befreundeten und mit Inseraten geköderten Blattmachern und sagen: "Wir müssen die Lehrer klein kriegen! Die müssen länger unterrichten, sonst passt unser Budget nicht ... und Lehrkräfte haben wir auch nicht genug."

Bietet dann das massiv unabhängige Buntpapier einen kleinen Deal an?
"Naja. Wenn wir über Monate richtig böse schreiben, dann glauben es die einfachen Leute schon. Die Lehrer sind eh unbeliebt, da braucht es nur genügend negative Meldungen ... dann fallen sie schon um. Der Druck der Straße bringt sie zu Fall."

Geht das so?
Oder klingt das nach Verschwörungstheorie?

Fragen Sie zehn Lehrer und elf werden die Gerüchte bestätigen: "Sicher. Unsere Chefs (!) kaufen sich mit unseren Steuergeldern die Presse, um uns unter Druck zu setzen. Unser Ruf wird systematisch ruiniert. So läuft die Politik."

Es gilt die Unschuldsvermutung (habe ich in der Billigpresse gelesen), aber es bleiben ein paar Fragen:

1. Wie arbeiten Angestellte, wenn sie das Gefühl bekommen, von ihren eigenen Vorgesetzten verraten und verkauft zu werden?

2. Wie kann man den Wahrheitsgehalt dieses Verdachts überprüfen?

3. Was sollte gegen solche Medienkampagnen unternommen werden?

Früher war das jedes Jahr mein Wunsch:
"Bitte gebt mir eine erste Klasse."
Die Kleinen (10 Jahre) sind einfach lieb, lernwillig, ehrgeizig. Gewesen.

In den letzten Jahren wurde der Wunsch kleiner ... und zu einem Himmelfahrtskommando. Erziehungsarbeit. Dompteur.
"Gebt mir lieber eine Oberstufe. Mehr Arbeit, aber angenehmer."

Eine Supplierstunde: Ich gehe mit gemischten Gefühlen in die 1C. Ich habe von der auf Fortbildung befindlichen Kollegin ein Stapel Arbeitsblätter und diverse Aufträge bekommen. So kann man für geregelte Unterrichtsstunden sorgen: Klare Aufträge, Beschäftigung bis ans Ende der Stunde, Kontrolle.

Überraschung macht sich breit. Die Kinder kommen und stellen Fragen, sie kommen und wollen meine Verbesserung sehen. Sie helfen einander und arbeiten ruhig die ganze Stunde. Sofort möchte ich wieder eine erste Klasse haben.

"Wie war's in meiner Klasse?", fragt die weitergebildete Kollegin nach ihrer Rückkehr.
"Hey. Toll. So eine Klasse habe ich schon lange nicht gehabt."
"Und? Ist dir was aufgefallen."
"Ahhh. Nur Positives."
"Da sind fast nur Ausländer drinnen. Gut erzogen, lernwillig, engagiert."
"Stimmt eigentlich ..."
"Die haben noch richtig Respekt vor Lehrern, die haben noch Ehrgeiz, Interesse."

Purer Rassismus?

Die Banklehrlinge kommen zurück. Sie haben das Gymnasium verlassen, um eine Bankausbildung zu machen. Wir haben sie eingeladen, ihre Erfahrungen an unsere Schüler weiterzugeben.

"Bei der Bewerbung haben wir Kopfrechnungen gemacht. Richtig viele, auch mit größeren Beträgen."
Er redet nicht in "Zahlen", er denkt in "Beträgen".
Kopfrechnen in der Schule? Vorgestrig, überholt, keine Kompetenz. Schon bei einfachsten Additionen zücken wir das Handy.

"Dann bekamen wir einen Stift und eine Flipchart. Fünfzehn Minuten Vorbereitung, fünfzehn Minuten freie Rede. Pfff, das dauert, das ist Stress. Und wir mussten uns selbst organisieren."
Plötzlich ist es nicht egal, wie du sprichst. Wie du dich kleidest. Wie du dich gibst.
"Natürlich müssen wir uns ordentlich anziehen. Strumpfhosen, Blusen, dezente BHs."
Wenn ein Direktor gleichaltrigen SchülerInnen solche Vorschriften macht, wird er durch die Presse geprügelt.

"Wir mussten eine Brücke aus Pappe bauen. Im Team. Da versucht jeder sein Bestes zu geben ... und das Ergebnis muss auch stimmen. Sie musste tragfähig sein."
Dort funktioniert es. Wer nicht will oder nicht kann, der fliegt.

Nach dem ersten Durchgang waren 90 % draussen. Selektion ist in der Wirtschaft völlig normal und akzeptiert. Den gleichaltrigen Schülern würden wir das niemals zumuten. Unmenschlicher Druck.

"Bald stehst du in einer Filiale. Dann telefonierst Du mit dem Direktor, du zählst 45.000 Euro für Kunden, du hilfst am Info-Point. Ich habe sogar die Schlüssel für die Kassa bekommen."

Sie werden ernst genommen, sie verdienen sich ihr Vertrauen. Sie respektieren und werden respektiert. Sie grüßen freundlich und halten dir die Türe auf. Sie haben ein Konto und verdienen ihr Geld. Sie stehen in Ausbildung wie unsere Schüler. Aber sie leben in einer anderen Welt. Da gibt es wieder 100 Gründe zu finden, warum Schule nie so funktioniert wie eine seriöse Ausbildung.

Es fehlt der Ernst des Lebens. Schule soll ja Spaß machen.

Ich stehe am Pult und spiele gedankenlos mit meinem roten Korrekturstift, während meine Schüler an ihrer Aufgabe rätseln. Die ersten geben ab und lachen.

„Mist! Der Stift rinnt aus.“

Rote Flecken auf dem Buch, rote Flecken auf dem Tisch, rote Finger, rote Hände …
Ich suche verzweifelt irgendein Tuch, um die Flecken zu beseitigen, finde aber nur eine alte Zeitung im Raum. Ich mache sie feucht und versuche, die Farbe wenigstens vom Pult zu entfernen. Das Rot wird weniger, das Zeitungsschwarz deckt ab.
„Na super!“
Die Schülerinnen schauen amüsiert zu.
„Oh Gott, ich schau aus wie ein Ferkel ...“
Entspannte Gesichter.
„Und rote Hände haben ich auch!“
Freundliches Gelächter.

Ja, den kennen sie. Der ist so gut, dass ich immer wieder lachen muss.
„Sie könnten auch kein Kabarett spielen, weil Sie schon lachen, bevor der Witz kommt.“

Ja. Aber für den Unterricht reicht es.

In Österreich kommt man um das Thema nicht herum: Der Opernball und dessen Nutten.

Ich will daran vorbeischrammen, lese aber, wie sich eine Mutter ihren Mädchentraum wahr machen konnte: Der Sohn darf beim Ball der Bälle eintanzen.

Die stolze Mutter über den Aufwand des 19-jährigen Studenten: "Die Proben sind ja regelrechter Drill - aber das ist auch notwendig."

Klar doch, für eine Tanzveranstaltung unterziehen wir uns gerne den automatisierenden Übungen, die der sicheren Beherrschung einer Fähigkeit dienen. Beim Sport auch, beim Computerspiel ebenso ... Ich würde zusammenfassen: In der Freizeit ist Drill erlaubt, erwünscht, notwendig.

Beim schulischen Lernen oder beim Arbeiten wird Drill als menschenunwürdiger Zwang, der demotiviert und kontraproduktiv wirkt, gebrandmarkt. Drill geht gar nicht. Geht wirklich nicht?

Kann mir jemand erklären, warum Drill dort akzeptiert wird, wo er am wenigsten nützlich ist? Und nicht umgekehrt?

Nach dem Unterricht. Wir gehen gemeinsam die Stufen hinunter Richtung Ausgang. Im Erdgeschoß biegen wir ab, lassen das Haupttor links liegen.

"Gehst du nicht nach Hause?", fragt der Kollege.
"Doch! Und du?"
"Ich nehme den Seiteneingang."
"Ich auch."
"Warum eigentlich?"
"Ich gehe über den Parkplatz zum Einkaufen."
"Ist dir eigentlich aufgefallen, dass viele von uns das Haupttor generell meiden?"
"Nein, warum?"
"Ich glaube, dass viele die Ansammlung der Schüler davor umgehen. Immer mehr sagen mir, dass sie sich nicht anpöbeln lassen wollen."
"Na echt? Früher haben die Kinder den Eingang gemieden. Die Lehrer haben sie dort immer erwischt und zur Rede gestellt ... die Raucher, die Stänkerer ..."

Jetzt umgehen wir die Probleme. Kein gutes Zeichen.
Haben wir unser eigenes Revier aufgegeben?

 

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma