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cotopaxi

 
Harry, quicklebendige 10 Jahre alt, sitzt nicht zufällig alleine in der ersten Reihe. Sein Klassenvorstand setzt auf Konsequenz und bittet mich, jeden kleinsten Vorfall sofort zu melden. So gebrieft marschiere ich in die unbekannte Klasse.

Ich teile Gratiszeitungen aus - dafür pilgere ich vorher zum Bahnhof - und lasse nach Markennamen im Text suchen: "Coca-Cola, Microsoft oder Austrian Airlines, zum Beispiel."
Manche stürzen sich ins Gefecht, ein Mädel fragt aufmüpfig "Wozu?" und Harry beginnt zu summen, pfeifen, singen.

Das Ergebnis unserer Recherche bleicht mir jedes Mal die Haare.
Redaktionelle - also die viel beschworenen unabhängigen - Texte stehen häufig in direktem Zusammenhang zu bezahlten Inseraten.
Am besten belegen lässt sich diese Käuflichkeit der Journale/Journalisten im Reiseteil. Findet man einen Bericht über Kuba, dann im Anhang zu einem Karibik-Inserat. Völlig unabhängige Berichte über Reiseländer suche ich nur mehr im Internet! (Und Bloggern schenke ich das größte Vertrauen.)
Auch wenn sich Zeitungsfritzen in die Schule verirren, dann meist im Schlepptau einer sponsernden Firma, also wenn es Geld zu machen gibt.
Ergebnis: Graue Haare am Kopf und Kabeln im Hals. Grrrr...

Harry hat zu diesem Ergebnis wenig beigetragen. Er hat die Nackerte auf Seite 7 heftig kommentiert (Meine Reaktion: "Schluss jetzt, du sagst jetzt keine Wort mehr!"), mit Kugelschreiber deren Rundungen verstärkt und das Gratispapier auf seine Festigkeit getestet: "Sch..ßpapier!"

Nach dem Pausengong fragt mich Harry: "Können wir die Zeitung behalten?"
"Ja, die war ja gratis."
Jetzt ist er enttäuscht.
Er zieht sein eigenes Exemplar aus dem Tischfach - wohl ein Bahnfahrer! - legt es fein säuberlich zusammen und packt es unversehrt in seine Schultasche.
Ich denke mir: "Warum hat er mein Arbeitsmaterial zerstört?", mache mir Gedanken zum öffentlichen Eigentum, zum Vandalismus und überlege, was ich davon dem Klassenvorstand erzählen soll.

Aus pädagogischer Neugierde würde ich ihn gerne zu seinem Verhalten interviewen, aber ... ding-dong-gong - die nächsten 30 Kinder warten mit neuen Überraschungen.
Lektor (Gast) meinte am 24. Mai, 17:36:
Nietz'sches
"Wahnsinn ist die natürliche Reaktion eines gesunden Verstandes auf eine kranke Gesellschaft."
Vielleicht ist aber Wut und Zerstörung eine weiter Möglichkeit zu reagieren. 
teacher antwortete am 24. Mai, 21:10:
Gibt es keine verträglichere Reaktion? 
Lektor (Gast) antwortete am 25. Mai, 15:54:
Schau dir doch mal die Welt an. Wie viele politische und militärische Machthaber sind geistig und moralisch auf dem Niveau dieses Jungen?
Und wie soll überhaupt so eine "verträgliche" Reaktion aussehen, wenn die erste Problemlösungsstrategie der Gesellschaft Gewaltausübung ist, sei es mit dem Gewehr oder mit dem Gesetzbuch? 
Jemand (Gast) meinte am 24. Mai, 17:37:
Ehrlich gesagt finde ich das nicht sooooo tragisch, schließlich wurde ihm ja vorher gesagt, dass sie "gratis" sei. Ich kann verstehen dass ein zehnjähriger nicht daran denkt, dass dennoch ein "Schaden" entsteht, und dass die Zeitungen noch eine andere Aufgabe haben können...

Wir sind fast alle so:
Wasser kommt aus der Leitung, Strom aus der Steckdose. Gibt genug davon. Man denkt nicht drüber nach.
Ich weiß, gewagter Vergleich, geht aber in die gleiche Richtung. 
teacher antwortete am 24. Mai, 21:14:
Mein Problem mit Harry: Seine eigene Zeitung schont er (marktwirtschaftlich), die Schulausgabe (öffentliches Gut) zerstört er. Daraus kann man viel lernen! 
Indianerin (Gast) antwortete am 25. Mai, 13:56:
Er hat es sich von den Eltern abgeguckt. Was war als erstes da?...
Gratis hin, gratis her, verstehe ich bei größeren Kindern (und Erwachsenenen) die Vorliebe zur Zerstörung nicht. Wenn man das Zerreissen als Kleinkind zig-mal geübt hat, um die eigene Macht oder das eigene Geschick zu checken, sich vom Geräusch betäuben zu lassen oder ich weiß nicht was, sollte es ausreichen. 
Der_Eisenschmyd antwortete am 29. Mai, 08:33:
Ich denk dann an Rammstein:

"...ich will zerstören, doch es darf nicht mir gehören...will ein guter Junge sein, doch das Verlangen holt mich ein..." 
teacher antwortete am 29. Mai, 15:52:
Ob Harry das mit 10 Jahren schon hört? 
trurl (Gast) meinte am 29. Mai, 17:43:
Zur Käuflichkeit:
Gratiszeitungen, wie sie sich im Umfeld von Bahnhöfen finden, sind a priori werbefinanziert. Anders kann das - die grundsätzlich kommerzielle Orientierung von Verlagshäusern vorausgesetzt - auch gar nicht funktionieren.
Davon abgesehen ist aus medienrechtlicher Sicht sehr genau definiert, was ein Inserat, was ein Advertorial und was ein unabhängiger Bericht ist. Wobei außer Frage steht, dass für den unbedarften Leser diese Unterscheidung bei weitem schwieriger ist.

Ihr fett gedruckter Hinweis auf die "Käuflichkeit" entspringt offenbar der Annahme, dass Printprodukte, welche beim durchschnittlichen Leser den Eindruck seriöser Berichterstattung erwecken, tatsächlich ausschließlich unabhängige und objektive Inhalte liefern sollten.
Aus meiner jahrelangen Erfahrung als Journalist erlaube ich mir das Urteil, dass diese Annahme grundsätzlich nie zutrifft. Was natürlich nicht gleich heißt, dass die Zeitungen voller Lügen sind.
Ein bekannter ORF-Redakteur hat mir gegenüber diese heikle Frage einmal so beantwortet: Wir lügen nicht. Wir entscheiden aber, was wir veröffentlichen und in welchem Kontext wir das tun.

Wenn Sie einen Reisebericht über die Vorzüge einer Destination gleich neben einem passenden Inserat finden, zeugt das eher von einer leserfreundlichen Inseratplatzierung. Der Leser könnte sich nach der Lektüre ja tatsächlich dafür interessieren, wo man eine passende Reise buchen kann. Wenn das eigenartigerweise stets bei z.B. Neckermann sein sollte, findet natürlich eine Verzerrung statt.

Aber das ist an sich nichts Neues: Aufmerksamkeit erregt, wer laut ist. Und in einer von Werbung getriebenen Konsumgesellschaft ist Lautheit äquivalent zur Höhe des Werbebudgets.
Aus Sicht des Verlagshauses bedeutet das: Wenn meine Leser nicht (ausreichend) für mein Produkt zahlen wollen, dann muss das eben jemand anderer tun. Weshalb man sich durchaus ruhigen Gewissens mit der Wirtschaft und deren Berichterstattungsprioritäten arrangieren kann. 
teacher antwortete am 30. Mai, 09:35:
Das ist mir zu medienfreundlich formuliert.
Ein Bekannter hat früher immer wieder Reiseartikel in diversen Zeitschriften untergebracht ... und damit weitere Reisen finanziert. Jetzt bringt er keine Berichte mehr unter von Ländern oder Reisen, die nicht irgendwie werbefinanziert werden. ("Jeder Artikel muss sich rechnen!")
Das stimmt mich echt traurig, besonders wenn ich diese Erfahrung auf andere Themenbereiche der Zeitungen (z.B. Wirtschaft) hochrechne. 
 

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