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cotopaxi

 
Wir sind schrecklich.

Vor drei Wochen fand ich ein Notenblatt in meinem Postfach. Ein Musiker meinte: "Du wärst ein guter Tenor."

Vor zwei Wochen hing ein Zettel auf dem Schwarzen Brett: "Bitte eintragen: Wer bringt was?"

Letzte Woche wurden kurze Texte verteilt.

Mitten im Mehrzwecksaal steht ein Tisch. Mit weißer Tischdecke und einem Adventkranz. Alle vier Kerzen brennen. Rundherum sitzen im Sesselkreis rund fünfzig Menschen. Einige ehemalige Kolleginnen und zwei ehemalige Direktoren haben sich eingefunden.
Nach der Begrüßung spielt ein Kollege J.S. Bach auf dem Klavier. Wir hören drei besinnliche Texte. Vorlesen - zuhören. Es ist ruhig. Weihnachten in der Schule. Der Lehrerchor singt, wir antworten im Refrain.

Dann gehen wir zum Buffet: Aufstriche wurden mitgebracht, Brote aufgeschnitten, Kuchen gebacken.

Wir trinken, wir saufen nicht.
Wir plaudern, wir gröhlen nicht.
Wir essen, wir schlemmen nicht.
Wir kaufen, wir shoppen nicht.
Wir feiern Weihnachten wie früher. Schon immer.

Wir sind schrecklich ... schrecklich altmodisch. Darauf bin ich stolz.

Ungeachtete Vorbilder.

Frohe Weihnachten.

"Herr Professor, hätten Sie am Donnerstag nachmittag Zeit?"
"Kommenden oder nächsten?"
"Den 23."
"Da haben wir Weihnachtsfeier."
"Ja, genau ... und anschließend wollen die Schüler noch weitermachen. Aber der Direktor lässt das nur zu, wenn sich Lehrer zur Aufsicht bereit erklären."

Aha. Jemand muss die Verantwortung übernehmen. Klar.

"Im Prinzip, ja. Aber ich muss mich erst informieren, was geplant ist."

Das tu ich dann.

Kollege 1: "Sei vorsichtig! Da wurde schon angedeutet, dass sie Punsch, Alkohol etc. in die Schule schmuggeln wollen."

Kollegin 2: "Es ist noch nicht geklärt, ob die Schulwarte putzen werden. Da kommt vom Schnee im Hof so viel Dreck herein ..."

Kollegin 3: "Eigentlich ist normaler Nachmittagsunterricht. Den dürfen wir nicht absagen (Unterrichtsgarantie!) - gleichzeitig soll eine Feier ablaufen. Da gibt es Musik, Lärm. Wie kriegst Du das in den Griff?"

Kollege 4: "Was machen denn die Schüler zwischen Unterricht und Feier? Da ist eine Stunde Pause dazwischen, da können wir sie ja nicht in die Kälte stellen. Aber herinnen ist die besinnliche Andacht ... und für die Feier soll die Anlage aufgebaut werden und das Buffet vorbereitet ... drei Dinge auf einmal ... im gleichen Saal. Wie geht das?"

Kollege 5: "Und vergesst nicht, dass manche Räume für die Fortbildung vermietet sind. Die EDV z.B. darf auf keinen Fall gestört werden."

Also, ich will gerne helfen, wenn die Schüler eine Weihnachtsfeier organisieren wollen. Aber da sollten ein paar Bedingungen erfüllt werden.

So gehts uns dauernd: Ich will gerne Schule machen - aber da sollten ein paar Bedingungen erfüllt werden.

P.S.: Die Weihnachtsfeier hat schließlich im Freien stattgefunden. Der Punsch war ... naja, süß. Die Musik war ... naja, modern. Die Stimmung war wie das Wetter, also ... lau.
Erklärung der Erfahrenen: "Ohne Vorglühen geht halt gar nichts."

Nachsatz: "Alles, was Spaß macht, ist in der Schule verboten."

Misses R. ist eine verdiente Kollegin, die ihr Leid nicht in die Öffentlichkeit trägt. Sie unterrichtet seit fast 40 Jahren Englisch an der Schule und hat viele Kinder zur zweisprachigen Reife gebracht. Trotz ihres Alters ist sie sportlich geblieben, anspruchsvoll und zuversichtlich.
Auch weiblich-elegant. Kompliment.

Jeden Montag steht sie mit mir in der dritten Pause im Erdgeschoß und hält pflichtbewusst ihre Gangaufsicht. Die Kinder laufen zum Buffet, andere zu den EDV-Sälen, wieder andere zum Turntrakt, manche sammeln sich beim Ausgang, die meisten warten auf die nächste Stunde.

Zwei Burschen drängen sich durch, einer dreht sich leicht zur Seite und sein mächtiger Rucksack schlägt hart gegen die Brust von Misses R.
Sie atmet durch, schluckt hinunter und sagt nur: "Dieses Stoßen und Drängen, dieses Rempeln ... es wird immer schlimmer."

Sie gibt niemanden die Schuld, aber sie fühlt, dass sie reif für die Pension geworden ist: "2013", sagt sie hoffnungsvoll.

Wir gehen weiter, schauen in die Klassenräume, kontrollieren die Ausgänge, müssen auch WCs und Garderoben überwachen. Plötzlich dreht sich ein Bursche vor uns um und schießt mit voller Wucht eine Drinkflasche weg - mir genau aufs Scheinbein: "AU! Bist du wahnsinnig?"
"Entschuldigung, tut mir leid. Aber ER hat sie auf mich geworfen!"
Immer ist es irgendein anderer.

Wer in Würde altern will, sollte Schule meiden.


"Weisst Du was? Wir werden um Asyl ansuchen!", probiere ich es mit zynischem Humor.
"?"
"Ja. Wir sind doch politisch verfolgt. Eine diskriminierte Minderheit ... und ständig Gewalttätigkeiten ausgesetzt."
":-))"
"!"

Bon courage, Misses R.

Vor 20 Jahren hat der Direktor vehement verlangt, dass seine Lehrer für jede Stunde eine Hausübung verlangen. Und diese auch sorgfältig korrigieren: "Eine Stunde ohne Übung am Nachmittag, individuell und in Ruhe - da bleibt nichts hängen."

Und wir hielten uns daran. Die SchülerInnen auch. Pflichten eben.

Vor 10 Jahren drehte sich das Blatt. Medien und Minister sprachen von der Überforderung der SchülerInnen, die Zahl der Unterrichtsstunden wurde reduziert und die Lehrer angehalten, bei den Hausübungen zurückzuschalten: "Überlegen Sie sich jede Hausübung, sprechen Sie sich ab, damit die Kinder nicht überlastet werden." Wir reduzierten die Übungen und freuten uns über die gewonnene Freizeit. Wir lasen sogar von wissenschaftlichen Ergebnissen, die den Hausübungen jeglichen Wert absprachen.

Lob der Entlastung.

Jetzt diskutieren wir mit einer renommierten Kollegin, die nicht nur Deutsch unterrichtet sondern auch Lehrer für den Deutschunterricht ausbildet. Ihre Schüler schreiben gerade einen Brief an sich selber, sie denken über den Wert ihrer Muttersprache und den Sinn von Hausübungen nach: "Die Kinder sind einsichtig, sie wissen, dass es ohne Training nicht geht."

Die Hälfte der Klasse hatte eine Hausübung abgegeben. Mehr oder weniger freiwillig.

Weniger Stunden in der Schule, weniger Übung zuhause.
Wie werden sich die Sprachkenntnisse der Jugend entwickeln?
Ha?

Wir Österreicher (m.) können nicht lesen. Und tun es auch nicht.
Ein Bursche im Ösiland, der freiwillig liest, muss sich um seinen Ruf sorgen.
Ein echter Kerl surft, spielt und chillt.
"Lesen ist irgendwie schwul."
(Gemeint ist die Erarbeitung höherwertiger Belletristik, also von dem Zeug, das die Deutschlehrerin empfiehlt)

Den PISA-Test haben sie (m.) sprachlich zum PISSER-Test degradiert.
Problem gelöst.

Eine Kollegin weitet das spezielle Genderproblem auf die Lehrer (m.)aus:
"Mir fällt auf, dass die männlichen Kollegen schwerer frustriert sind als die Frauen."
Das war mir bisher entgangen, dafür habe ich zu viele Krisen bei den Kolleginnen erlebt.
"Und wie erklärst Du das?"
"Wir Frauen sind es gewohnt, unbedankte Arbeiten zu erledigen. Hausarbeit zum Beispiel."
"Verstehe."
"Ausserdem legen Männer mehr Wert auf Karriere und Image. Da haben sie in der Schule massiv verloren."
"Klingt logisch. Aber was können wir da machen?"
"Wir? Wir ist wie man! Du musst die Frage anders stellen: Was kann ICH da machen? Du musst ändern, was du ändern kannst ... und akzeptieren, was du nicht ändern kannst."
"Das ist mir zu wenig. Ich weiß, was alles zu verbessern wäre. Und ich sehe, was alles schief läuft. Das frustriert total, da kann man nicht einfach weiterarbeiten."
Da sagt sie lächelnd: "Ich muss nach Hause, wir haben am Abend Gäste. Du verstehst? Tschüss."

"Gewinn" ist eine österreichische Fachzeitschrift mit leicht definierbaren Zielen: "Für den persönlichen Vorteil".
"Gewinn" hat früher im Rahmen der "Gewinn-Messe" einen "Schülertag" organisiert, wo das junge Publikum auf Informationen für Anleger und Kapitalisten losgelassen wurde. Unruhe. Hektik. Gedankenlosigkeit. Der Nadelstreif war irritiert.

"Gewinn" hat dazugelernt und veranstaltet ab 2010 einen separaten "InfoDay" für SchülerInnen. Die Ziele sind vielfältiger geworden und liegen zwischen Berufsorientierung, Einblick in den Wirtschaftsalltag und ökonomischem Entertainment.

Meine siebente Klasse (16-17 Jahre) wollte hin. OK.

"Es hat sich ausgezahlt," sagt mir Beate. "Ich habe Goodies für mindestens 8 Euro abgesahnt, da hat sich der Eintrittspreis schon rentiert."
"Gut", sage ich, "du hast das Motto verstanden."
"Ich habe allein sieben Kugelschreiber bekommen ...", freut sich Ben.
"... und ich habe Briefmarken mit meinem Foto gewonnen", präsentiert Carla ihre Mappe stolz.
"Mir ist das Schnorren zu peinlich", gebe ich kleinlaut zu. Immerhin habe ich Informationsmaterial vom Europäischen Parlament, von den Fachhochschulen und von einem Pädagogischen Verlag bekommen. Zwei Äpfel und ein Eistee waren auch im Package.

Dann sitzen wir im Vortragssaal.

Dr. Wailand, der Chef der Zeitschrift und des Verlags, berichtet von seinem journalistischen Werdegang: "Möchte jemand Journalist werden?" Etliche Hände gehen in die Höhe. "Dann studieren Sie ein seriöses Fach, Jus oder Wirtschaft, zum Beispiel. Aber lassen Sie die Publizistik."
Aha.
Anschließend schildert das T-Mobile-Vorstandsmitglied Stefan Gubi sein rastloses Leben zwischen Taipeh und New York. Karriere, Engagement, Leistung, Wettbewerb ... das sind die Schlagworte, die seinen Vortrag prägen.

Ich schaue durch die Reihen der Jugendlichen und staune nicht schlecht. Jede(r) vierte/fünfte hat sein Handy aufgedreht, manche spielen auf ihren Smartphones, manche simsen in Affengeschwindigkeit, manche sind auf facebook aktiv, hinter mir wird sogar telefoniert. Sie demonstrieren die zeitgeistige Einstellung zum Alter, die auch der Medienkünstler Peter Weibel kritisiert: "Ihr seid alt und hässlich. Ihr habt uns nichts zu sagen. Wir sind jung und hübsch - das zählt im Leben."

Geheim und verstohlen freue ich mich über diese versteckte Machtdemonstration: Ich kann in meinen Klassen mehr Aufmerksamkeit erregen als die wirtschaftliche Elite Österreichs.

Der Ex-CEO am Ende der Präsentation: "Haben Sie noch Fragen?"
1. Frage: "Warum tun Sie sich den Stress eigentlich an?"
Das Geld spielt eine Rolle.
2. Frage: "Warum haben Sie den Vortrag auf englisch gemacht?"
Das war erwünscht. Globalisierung und so.
3. Frage: "Warum haben Sie den Job so oft gewechselt?"
Vier Mal, das ist richtig treu.

Jung und schön, das zählt. Oder schauen Sie nicht fern?
Wer will alt und weise werden. Oder gar weiß?

Die üblichen Sprüche beherrschen den Sozialraum, auch und besonders nach PISA: "Stell dir vor, in der dritten können sie nicht einmal das Präteritum bilden."
Oder Dur und Moll unterscheiden.
70 % Prozent von 200 Euro berechnen.
Oder sonst was.

"Ich kann nicht mehr," resümiert eine Kollegin.
"Das System muss zusammenbrechen. Je früher, desto besser", kommt aus einem anderen Eck.
"Weißt Du", fasst ein erfahrener Kollege zusammen, "früher waren manche desinteressiert. Heute wehren sie sich gegen den Unterricht."

"Der André aus der vierten hat sechs Wochen kein Buch mitgenommen", springt eine Kollegin ein. "Angeblich hat er es nicht gefunden. Deshalb hat er keine Hausübungen machen können, keine Vokabel schreiben können. In der Klasse hat er sich immer zu den Mädchen gesetzt ... gestört, gestört. Ich habe dann der Mutter geschrieben. Und stellt euch vor, was passiert ist?"
"Ja?"
"Das Buch war in zwei Minuten gefunden. Und der gute André sucht andere Wege zu entkommen. Sehr kreativ."

Normale Gespräche im Lehrerzimmer. Nach dem PISA-Debakel.
Was allen fehlt: Motivation.

Die Fünfzehnjährigen kommen aufgeregt von einer Kunstausstellung zurück. Die Klasse ist laut und nicht zu beruhigen. Einer der Burschen geht an die Tafel und zeichnet zwei Symbole : Einen liegenden Halbmond und einen Stern darüber.

"NEIN! Du musst einen Judenstern zeichnen", stürmt ein Mitschüler zornig hinaus und korrigiert die Zeichnung.
"Stellen Sie sich vor, so was haben die im Zug gesprayt!"
"Könnt Ihr mir das erklären?"
"Da hat jemand die türkische Flagge beleidigt!"
"Ich sehe nur einen Halbmond und einen Stern."
"Ja, aber das war alles auf rotem Hintergrund. Schauen Sie, so schaut die türkische Flagge aus ... und das mit dem Stern da!"
"Ja? Das sind religöse Symbole."
Ich zeichne ein christliches Kreuz dazu: "Was ist so schlimm daran?"

Sie schreien gestikulierend durcheinander, aber sie können mir ihre Wut nicht erklären.

"Da hat euch jemand provoziert, oder? Und es ist ihm gelungen!"
Es wird ruhiger.
"Wenn jemand "alter Arsch" sagt, dann bin ich beleidigt, aber so?"
"'Alter Arsch' kann er zu mir sagen, aber das geht nicht."

Es wird mir klar: Argumente zählen nicht mehr. Da sitzen liebe Buben - religiös verblendet. Tief gläubig, indoktriniert.

"Herr Professor! Was würde Österreich ohne Ausländer tun?"
Einer zählt die SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Türken, Polen, Serben ... Wir sind hier alleine 13."
"Willst du sagen, diese Zeichnung ist ausländerfeindlich?"
"Das beleidigt alle Moslems, die Türken!"

Ich verstehe: Der Judenstern besudelt. Antisemitismus kommt aus einem neuen Eck. Sehr lebendig, sehr jung, sehr naiv. Ablehnung als fromme Pflicht.

Als Jude hätte ich Angst in dieser Klasse. Aber ich bin - Gott sei Dank - bloß ein ahnungsloser Ungläubiger.

Ich brauche eine Nachdenkpause.

Beim Lesen der Beiträge und Kommentare festigt sich ein Eindruck, der mich zum Umdenken zwingt: Hier wird nicht mehr kommuniziert, sondern nur mehr verteidigt. Jeder hat seine Positionen - die ausreichend bekannt sind - keiner bewegt sich.

Wozu dann schreiben?

Ich schaffe es nicht, zu überzeugen. Ich lese, dass ich mich ändern soll, positiv denken und lustige Beiträge formulieren. Nicht die Schule, der Lehrer ist krank.

Hat das Blog seinen Sinn verfehlt?

Ich brauche eine Schreibpause.

Ich weiß nicht, wie viele Angestellte ihr Büro ausmalen.
Wir malen.
Zunächst räumen wir aus.
Dann putzen wir. Die alten Kaugummis müssen von der Wand geschabt werden: "Grauslich."
Schließlich kleben wir ab.
"Das sollten sie vorher verspachteln", gibt ein Elternvertreter den Tipp des Jahrhunderts.
"Ja, aber ..."
Wir haben weder die Materialien noch das Können dafür. Zuhause engagiere ich die Profis, in der Schule mache ich selbst, komisch.
Was sagt uns das?

In der Klasse:
"Gut, ich mache beim Projekt zur Verschönerung unserer Klassenräume mit. Aber ich mache das nur, wenn ich auf euch zählen kann. Also ich möchte mindestens die Hälfte von euch sehen. Übernächsten Samstag ... und sagt euren Eltern, dass wir ihre Hilfe benötigen. Und Leitern, Papier, Pinsel, Spachteln, Schleifpapier, Rollen ... wir haben nur Farbe bekommen."

"Gerade mal zwei Mütter sind gekommen," beschwert sich eine Kollegin. "Ich habe dann meinen Mann angerufen, sonst wären wir nie fertig geworden."
Schul-Renovierung als Familienunternehmen.
"Und die Schüler?"
"Das sind Kinder."

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Klasse riecht frisch, die Wände sind bunt geworden ... und Vater Staat wird weiter auf seine LehrerInnen setzen. Schulen muss man nicht renovieren, man lässt sie solange verfallen, bis der Leidensdruck der Lehrer zu groß wird.

Und sie werden ausmalen.

 

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