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cotopaxi

 
Am Eingang zur Lehrergarderobe staut es sich - eine stehende Mini-Verschwörung also.

Wir stecken mitten in den Studienprojekttagen. Die Schülerinnen und Schüler (16-17 Jahre alt) schwärmen an die Universitäten und Fachhochschulen aus und informieren sich selbständig über Studienmöglichkeiten der Region. Besuchen Vorlesungen, schreiben Reports dazu und erstellen für die Mitschüler Präsentationen über ihre Erfahrungen.

"Eines der besten Projekte, die wir jemals hatten", bestätigt mein eigener Sohn.
Seinen Studienwechsel konnte es auch nicht verhindern.

Die Projektleiterin ist am Boden zerstört:
"Gestern war die Hochschülerschaft im Haus. Die zwei Piepstimmen kamen gegen unsere Horden nicht an. Die haben beim Vortrag mit Papierln herumgeschossen, ungeniert gequatscht, gescherzt ... und Fragen am Ende sind ihnen auch keine eingefallen. Ich habe dann abgebrochen ..."

Es ist zum Weinen.

Eine Mitarbeiterin:
"Das passiert doch nur in Klassen, wo die Lehrer von vornherein skeptisch und dagegen sind: "In dieser Klasse? Da kommt nix heraus, die interessieren sich für nix."

Diese Lehrer fühlen sich jetzt bestätigt. "Das ist verlorene Zeit, streicht das Projekt! Meine Stunden gebe ich für solchen Radau nicht mehr her!"

Die Projektbetreiber behaupten das Gegenteil: "Solche Lehrer bringen jede Initiative um: selffulfilling prophecy."

Es ist wirklich zum Weinen.

Wir wühlen uns durch die Wirtschaftskarten des Schulatlas.

Kontrollfrage an die 12-jährigen:
"Was wird denn in einem Hüttenwerk hergestellt?"
Nachdenkpause.
"Hundehütten?"
"Neee ..."
"Skihütten?"
"Sicher ... nicht!"
"Gibts Katzenhütten?"
"NEIN!"
"Ich habs: Gartenhütten!"
"Aaaah!"

Sie geben auf:
"Sagens Sie's schon!"
"Eisen."
"Das ist fad."

Kollegin F. kommt aus dem Schwimmbad. Das mag in den Ohren schulfremder Personen unterhaltsam bis beneidenswert klingen, jeder Sportlehrer denkt anders: Heiß-schwül, laut hallend, chlorverseucht ... und: Umziehen. Rein-Raus.

Kurz: Niemand geht gerne mit einer Horde SchülerInnen ins öffentliche Hallenbad zum Schwimmunterricht, schon gar nicht im Winter.

Dann hat wieder einer der Superkleinen seinen Kastenschlüssel verloren:
"Wie soll ich mich anziehen?"
Kollegin F. sucht im Bad den Schlüssel. Sie findet ihn und soll ihn in die Burschengarderobe bringen.

Aber, Kollegin F. betont es großzügig: "Mir grausts!"

Sie mag nicht zu den Kleiderkästen der Burschen gehen, da laufen nackte Jungmänner herum, duschen, schreien, föhnen. Ihr grausts.

Gut, Kollegin F. hat keine guten Erfahrungen mit ihrem geschiedenen Mann gemacht und ein anderer Ex hat sie mitten im Leben mit ihren Kindern stehen gelassen. Zurück blieb eine verhärmte, hysterische und männerhassende Frustfrau, sagen die betroffenen Burschen.

Jede dritte Frau hier ist geschieden.

Letzte Stunde vor den Ferien. Eine Schülerin (12) hat eine DVD mit Zeichentrickfilmen mitgenommen: "Dürfen wir schauen?"
"Klar, ist ja Weihnachten."

Es stellt sich heraus, dass der O-Ton französisch ... und auf unserem DVD-Player nicht umzustellen ist. Der Medienprofi (ja, in jeder Klasse sitzen zwei Kinder, die für die Bedienung der technischer Ausstattung zuständig sind) dreht trotzdem den Ton nicht zurück. Super-Nana: Bunte Bilder, schrill gezeichnet (Manga-Stil) und schnell geschnitten, flimmern über den Schirm. Laute Töne, schwer verständliches Französisch: zack-bumm, yeaah-boing, trara mit 85 Dezibel.

Ich wundere mich: Die Kinder lachen an den richtigen Stellen. Nach dem ersten Clip lasse ich den Plot zusammenfassen: Sie haben alles Wichtige verstanden, alle Zusammenhänge erfasst.

Wenn mir jemand den Ton im Kino klaut, verliere ich den Faden. Wenn mich jemand beim Fernsehen stört, komme ich aus der Fassung. Nicht so meine Schüler: Film ohne Ton - kein Problem.

Drehen wir die Sache um, wird's schwierig. Nur zuhören - nix verstehen. Nur lesen - schwierig. Damit haben Erwachsene kaum Probleme, schließlich sind sie mit Kassettenrekorder und Buch aufgewachsen.

Nennen wir es beim Namen: pictorial turn. Die MTV-Generation versteht Bilder besser und schneller als wir.

Was tun wir daher in der Schule? Lesen und Reden.
Ich muss lachen, an der falschen Stelle.

Stellen Sie sich folgendes vor:

Ihr Name. Groß auf einem Blatt Papier.

Darüber eine kindliche Zeichnung: Strichmännchen.
Genauer: Zwei Strichmännchen und ein Strichfrauchen. Die Männchen stehen, das Frauchen liegt. Die Männchen sind bewaffnet, die Kugeln fliegen in Strichlinienform zu ... Ihnen, am Boden liegend. Tot. Ihr Name.

Wir hatten einen ähnlichen Fall, da war das Strichfrauchen auf einem Strick aufgehängt. Wir sahen es als böse Form schulischen Mobbings gegenüber einem Aussenseiter-Mädchen. Das Mädchen hat nachgegeben, die Eltern haben sie abgemeldet.

Jetzt steht der Name einer Lehrerin unter der Zeichnung:
"Ich habe den Burschen nichts getan. Warum bedrohen sie mich?"

Ich weiß nicht, wie ich die Kollegin beruhigen soll:
"Das steckt in den Köpfen dieser Buben, sie sehen es ständig ...", hat sie gar nicht hören wollen.

"Zuerst dachte ich, sie schreiben Liebesbrieflein, wie das bei Pubertierenden halt vorkommt ... Sie haben sich so blendend unterhalten, also habe ich ihnen die Zettel herbringen lassen. Einer hat ihn zerknüllt, der andere schnell zerrissen."

Ich weiß, dass nichts passieren wird:
"Das war doch nur Spaß", werden sie sagen.
"Das sind doch Kinder", werden die Eltern sagen.
"Was sollen wir tun?", werden alle fragen.

Was sich in unseren Köpfen verankert: SchülerInnen darf man nicht bedrohen, LehrerInnen darf man bedrohen: "Ist ja nur Spaß."

Jetzt ziehen Landesschulräte wie Staubsaugervertreter um die Häuser und umwerben die Gymnasien: "Wollt ihr nicht? Mehr Geld? Mehr Lehrer? ... Neue Mittelschule!" So lernen sie demütig, was es heißt, Körbe zu kassieren und Abfuhren einzustecken.

Die Nachbarschule ist eine prononziert fortschrittliche. Die Direktorin eine geübte Sozialdemokratin. Ihre Antwort lautet NEIN zur Gesamtschule: "Wir haben ein Profil erarbeitet."
Sie lehnt jedes Jahr hunderte Kinder ab, die ihr Medien-, Kommmunikations- und Projektmanagement-Angebot konsumieren wollen, sie hat keinen Platz. "Sollen wir das aufgeben, weil wir vernachlässigten Kindern Chancengleichheit einräumen müssen?"

"Mein kleiner Bruder", sagt eine meine vorlautesten Schülerinnen, "hat endlich die richtige Schule gefunden."
"Das heißt?"
"Er ist das Gegenteil von mir. Zurückgezogen, sensibel ... Jetzt ist er in einer Klasse, wo er nicht jeden Tag kämpfen muss ... raus aus der Hölle."

"Wer ist für die Gesamtschule?", frage ich am Ende dieser Stunde.
Einer zeigt auf.
Ich bin es nicht.
"Ich weiß, dass alle Kinder die gleichen Chancen verdienen. Ich bin auch bereit dafür. Aber die Lösung heißt nicht Gesamtschule."

So werden aus Hauptschulen, nur aus Hauptschulen, Neue Mittelschulen.
"Aber es gibt doch auch Gymnasien, die umgestellt haben, oder?"
"Ja, zwei oder drei. Die hatten keine andere Chance gesehen. Zu wenig Anmeldungen, zu viel Druck, keine Alternativen."

FREIWILLIG lässt sich kein Gymnasium degradieren.

Erst habe ich es auf der Autobahnbrücke gelesen und dann beim Fußballplatz. Mario hat es jetzt auf sein Federpennal gekritzelt:

ACAB

Groß und schwarz auf grün und Plastik.

"Sag', was heißt das eigentlich?", frage ich Mario, den zwölfjährigen Schläfer in der vorletzten Reihe. Er schaut mir unwillig in die Augen. Schlechtes Gewissen bemerke ich in seinem Gesicht.
"Ha?", stoße ich neugierig nach.
"All colours are beautiful", kommt selbstbewusst, aber ohne Überzeugungskraft aus seinem ernsten Mund.
Ich verstehe - er will es nicht sagen. Ich mache keinen Druck, ich lasse locker, das ist meine Methode. Ich gehe zu einem Mädchen in der zweiten Reihe, das sich neugierig umgedreht hat:

"Na, Melli, kannst du mich aufklären?"
"Sie wissen das nicht? ... Wirklich nicht?"
"Nein. Ich habe es schon öfters gelesen, aber ..."
"Hnnn. Das weiß doch jeder!"

Melli genießt es, den unwissenden Lehrer zappeln zu sehen.

"Na? Erklärst du mir's?"
"All cops are bastards! ... Das wussten Sie nicht?"
"Jetzt schon. Schule ist zum Lernen da."

Melli kommt am Ende der Stunde noch einmal zum Lehrertisch:
"Sie haben das wirklich nicht gewusst?!"
Sie freut sich spürbar, ihrem Lehrer ein Stück voraus gewesen zu sein.

Hat ihr richtig gut getan. Mir auch.

"Herr Professor, im Sekretariat wurde etwas für Sie abgegeben!"
Kollege Sowieso wandert hinüber und empfängt ein kleines Paket: Einen gestrickten Schal mit netten Weihnachtgrüßen von einer Schülerfamilie.

Sowieso stellt sich zwei Fragen:
1. "Warum bekomme ich einen gestrickten Schal?"
Ich sorge für romantische Weihnachststimmung: "Weil deiner so schiach ist."
2. "Und warum gibt mir das nicht der Schüler persönlich?"

Statt einer Antwort erzähle ich eine ebenso wahre Geschichte:

Kollegin Sowieso wird auf einen zappelnden Schüler in der ersten Reihe aufmerksam. Mit minimalen Gesten versucht er, das Interesse seiner Lehrerin auf den Fußboden zu lenken. Sie schaut hinunter, er schiebt mit seinem rechten Fuß ein Plastiksackerl unter den Lehrertisch und flüstert peinlich berührt: "Von meiner Mama ..."
Sowieso versteht und nimmt kommentarlos das Weihnachtsgeschenk in Empfang.

Die dritte Geschichte stammt aus der gleichen Zeit, derselben Schule, aber einer anderen Welt:

Ich wünsche am Ende der Stunde allen Kindern (und hier den LeserInnen):
"Schöne Weihnachten und ein gutes Neues Jahr."
Einige schreien zurück, andere haben schon die Colaflasche am Mund. Ein schüchternes kleines Mädchen aus Indien kommt mit einem bunt verpackten Päckchen zu mir nach vorne, strahlt mich freundlich an und überreicht mir wortlos und stolz ihr kleines Weihnachtsgeschenk.

Freude.

Wir besprechen die Träume und Ängste der heutigen Jugend und vergleichen sie mit statistischen Daten aus französischen Vorstädten.

Meine Rechnung geht nicht auf.

Wovon träumen sie mehr?

Von Geld?
Nein, von Familie!
Von Sex?
Nein, von guten Freunden.
Von Macht?
Nein, schon gar nicht.

Und was befürchten sie?

Arbeitslosigkeit?
Zu weit weg.
AIDS?
Ein bisschen.
Was sie wirklich fürchten:
Gewalt.

"Hallo? Wir leben in einem der sichersten Länder der Welt. Ich wurde noch nie überfallen, nicht beraubt, nicht bestohlen!"
"Wie oft gehen Sie am Abend weg?", fragen sie mich zynisch.
"Ab und zu."
"Sehen Sie! Und das alleine?"
"Meistens nicht."

Die Achtzehnjährigen erzählen von Gewalt, die ich nur in Sao Paulo oder Guayaquil vermutet hätte.
"Ich kenne vier Mädchen, die vergewaltigt wurden."
"Mir wurde das Handy am Bahnhof weggenommen - die SIM-Karte durfte ich noch rausnehmen."
"Wissen Sie, wie oft ich schon attackiert wurde?"

Sie erklären mir, wo man besser nicht hingeht. "Als Jugendlicher!"
"Und was unternimmt die Polizei?"
"Sowas zeigen wir doch gar nicht mehr an. Die nehmen uns doch nicht ernst!"

Ich bin eine Illusion ärmer, aber ich vermute: "Gewalt in der Schule" - ist das kleinste Problem. Vor und nach der Schule, dort ist Brutalität.

Kellner Kurt kennt seine Kunden. Er legt neben die bestellte Melange die Zeitung des Tages: "Österreich". Auf der Titelseite prangt das blutverschmierte Gesicht des Lehrers des Tages.

Kellner Kurt raunt mir vertrauenselig zu:
"Sie müssen härter durchgreifen!"

Ein Turnlehrer wurde in Wien von einer "Türkenbande" (oder war es eine Jugendgruppe mit Migrationshintergrund?) zusammengeschlagen, weil er eine attackierte Kollegin und seine Schülerinnen verteidigt hat. Offene Straße, helllichter Tag, Schulgruppe auf dem Weg zum Eislaufplatz: Chicago in Wien, würden die freiheitlichen Freunde formulieren.

"Wir sind stramm gestanden, wenn ein Lehrer hereingekommen ist," berichtet Kellner Kurt nicht ohne Stolz.
So redselig kenne ich ihn gar nicht.
"Die hätten sie in eiskaltes Wasser gesteckt!", setzt er wacker fort.

Ich sehe mich als pädagogisierenden Schwächling entlarvt. Mit Melange und buntem Nachrichtenblatt.
Aber hier kommt Kurt:
"Die Lehrer sind selber schuld!"
Ich hätte gerne Solidarität verspürt. Und ich komme nicht dazu, dem alten Kurt zu erklären, wie das Deutsche Reich untergegangen ist.

 

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