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cotopaxi

 
Nathalie schaut von einer Sekunde auf die andere echt böse. Das Wort "Versetzen" bringt sie in Aufruhr.
Nathalie hat sich in den letzten drei Monaten eine halbwegs gesicherte Position in der Klassenhierarchie erkämpft und in ihrer Nachbarin eine verlässliche Mitstreiterin geschaffen.

"Hatte der Papst eigentlich schon Geschlechtsverkehr?" fällt ihnen ein, wenn wir von der Pensionskrise sprechen.
"Sagen eigentlich alle Professoren dauernd "etc."?, lenken sie vom Inhalt auf die Sprache.
"Das können Sie nicht verstehen!", gilt als Argument gegen Aufforderungen zur konzentrierten Mitarbeit.

"Wir müssen euch auseinander setzen! Das ist unsere Aufgabe. Ihr steht euch selbst im Weg und ihr stört die anderen bei der Arbeit."

Da erschlafft das Lachen in Nathalies Mimik und sie schaltet spontan auf beleidigt.

"Mädchen! Du willst wie eine Erwachsene behandelt werden, dann musst du auch so handeln ..."

Ende der Kommunikation. Sie schaut ins Leere, ausdruckslos, enttäuscht von einem Lehrer, dem sie so viel Witz und Charme geliehen hat. Aber damit ist jetzt Schluss ... ich spüre es, ihren Liebesentzug, ähhh ... Witzentzug, Charmeentzug.

"Da kommt was auf uns zu!", lässt der Schlossermeister Dampf ab.
Er sei ja in Pension und helfe nur aus, aber eine Woche reicht ihm.

Die Pflichtschüler suchen Berufe, manche Berufe suchen Lehrlinge. Anlässlich so genannter "Berufspraktischer Wochen" treffen sie aufeinander.
"Ich bin an der Drehmaschine gestanden, ich habe 400 Schachfiguren gedreht. Damit sie halt eine Ahnung bekommen. Ich zeig' ihnen, wie man das Werkstück einspannt, dann sollen sie einmal 5 Runden drehen. In Alu geht das ja perfekt, wenn man bis fünf zählen kann."
"Das wird ja noch gehen", unterbreche ich des Schlossers Redefluss.
"Vielleicht. Aber manche hören nach zwei Runden auf, andere würden ewig weiterdrehen ... ich kapier' das nicht."
"Die haben halt nicht zugehört. Das ist normal."
"Und während ich drehe, fangen die anderen zum Herumraufen an. Bei laufenden Maschinen, das geht halt nicht!"
"Jaaa ... Wem sagen Sie das! Wenn ich mich drei Minuten zur Tafel drehe, ist hinter mir die Hölle los."

Ich falle mit dem Schlosser ins Schema F: "Die heutige Jugend ist halt nichts wert." Eine jahrtausendalte Grundregel.

"Und dann im Kinosaal, ein Kommen und Gehen. Die können keine halbe Stunde ruhig sitzen. Wie sollen die was lernen?"

Früher fühlte ich mich als Lehrer leicht angegriffen. Schließlich könnten wir ja in der Schule ein paar kulturelle Grundregeln vermitteln:

1. Im Kino sitzt man ruhig und schaut einem Film zu.
2. Man liegt nicht auf den Kinostühlen. Zumindest nicht quer.
3. Man geht vor oder nach dem Film aufs Klo oder zum Buffet.
Geht man während der Vorstellung, dann möglichst unauffällig.
4. Man dreht das Handy ab, fotografiert nicht und hört nicht mp3.
5. Man spricht höchstens mit der Nachbarin, im Flüsterton.
6. Man wirft nicht mit Lebensmittel. Ausser in sein eigenes Fressloch.

Heute ernte ich zunehmend Mitleidsbekundigungen: "Wie kommen Sie mit 30 Solchigen ... über die Runden?"
"Es ist schon anstregend ... 6 Stunden am Tag halte ich es auch nicht mehr aus."
Der Schlossermeister: "Wenn die einmal unsere Pension zahlen sollen, na servus."
"Auf Wiedersehen."

"Geh zu ihm!"
Klingt das nach einem brauchbaren Kompliment?

Und doch ist es eines der besten.

Heute hielt Clara die Tür zum Lehrerzimmer auf und schaute mich bittend an. Clara war einmal Schülerin, will einmal Lehrerin werden, studiert Germanistik und Slawistik. Sie wirkt verzweifelt.

"Komm! Setzen wir uns."
"Mein Papa hat gesagt: Geh zu ihm! Deswegen bin ich da."

Clara leidet an der schrecklichsten Krankheit des akademischen Zeitgeistes: Zu viele Studenten müssen erbarmungslos rausgeekelt werden! Nur die härtesten kommen durch. Clara gehört zu den Sensiblen, Feinen, Nachdenklichen. Schon nach wenigen Wochen an der Uni meint sie, weder fürs Studium noch für den Lehrberuf geeignet zu sein. Bis zur Reifeprüfung hatte sich die Überzeugung gefestigt, nichts anderes im Leben tun zu wollen als fremde Sprachen zu lehren.

Uni wirkt, schnell und gründlich.

"In der Sprachwissenschaft liest eine verdorrte Tussi Unverständliches aus ihrem Heft vor. Ich sitze im Hörsaal wie in einem falschen Film."
"Das gehört zum Spiel. Du musst dich an den akademischen Jargon gewöhnen. Nichts als Bluff, das durchschaust du bald. Die Dozenten müssen sich halt beweisen, ihre Wissenschaftlichkeit heraushängen lassen ..."
"Und in der Medienübung spricht der Typ Rumänisch. Plötzlich, ohne Grund. Wo bin ich denn?"
"Hmmm ... und jetzt willst du gleich frustriert aufgeben? Dann haben die Tussi und der Rumäne ihr Ziel erreicht!"

"Deswegen hat mich mein Papa zu Ihnen geschickt."
"Sag DU zu mir."

Worauf ich hinaus will, das liegt im Dunkeln. Die Gedanken gären noch und durchs Schreiben soll Klärung passieren.

Ich komme in die Schule, sperre den Seiteneingang auf und trete ins Gebäude, das noch in morgendlicher Ruhe liegt. Vor dem Haupteingang drängen schon die Massen, drinnen sitzen und wandern nur wenige Kinder, die eine Ausnahmegenehmigung erhalten haben: Sie dürfen bis zu einer halben Stunde vor der offiziellen Öffnungszeit (7.45 Uhr) ins Schulgebäude eintreten. Weil ihr Zug so früh ankommt, weil ihre Eltern so zeitig weg müssen, weil sie niemanden haben, der sich morgens um sie kümmert ...

Die Schule funktioniert wie das Universum, auf ein Sandkorn reduziert. Kinder rotieren klassenweise um Sonnen, die sich als Rote Riesen oder Schwarze Löcher erweisen können. Sonnensysteme gruppieren sich zu Galaxien und alles weitet sich halbwegs berechnet ins Unbekannte: Lernen als Vorstoß ins galaktische Dunkel, gemeinsam und unter leuchtender Führung, meine Lieblings-Metapher zur Bildung.

Wer genauer schaut, der entdeckt die Unrundungen im Geschehen, das undurchschaubare Kommen und Gehen. Aber wer macht das schon ...

Dann gibt es die Kometen: Sie ziehen unsere, besonders meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie erschaffen sich ihre eigene Bahn, sie nähern sich für kurze Zeit unseren Planeten, irritieren und verschwinden wieder, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen. Sie erzeugen Angst, weil sie sich nicht anpassen und auf ihre Eigenständigkeit pochen. Sie werden nicht integriert und integrieren sich nicht.

Die kindlichen Kometen sehe ich alleine durch unsere Gänge wandeln, ich erlebe sie stumm oder stur in den Klassen sitzen und ich weigere mich, sie zu Aussenseiter zu stempeln. Ich nenne sie Kometen, wenn sie wieder einmal durch ihre geheimnisvolle Aura Unruhe im Lehrerzimmer oder Angst bei Schülern ausgelöst haben.

Mehr weiß ich nicht von ihnen: Machen Kometen Sinn?

Im ersten Stock wurden die Pinnwände neu behängt: Eine bunte Pyramide von Nahrungsmittel wirbt für gesundes Essen, ein rot glänzender Apfel versprüht Wellness und Jugend, Jamie Oliver macht auf coole Küche.

"An apple a day keeps the doctor away."
"Fünf Mal täglich Obst und Gemüse!"
"Statt fast food - fast&good."

Es läutet zur großen Pause und die Schüler stürmen ins Erdgeschoß. Dort warten große Kühlautomaten mit Colaflaschen und Eistee, dort empfängt der Buffetbetreiber mit Hot dog und Zuckerstangen, dort spielt das richtige Leben.

Die Kollegin versteht nicht, warum ich beim Ernährungsprojekt nicht mitmachen will: "Wir machen das in Biologie, in Englisch und in Turnen!"
"Aber nicht in der Wirklichkeit!"

Schule scheitert an der Wirklichkeit. Beim Essen wie bei der Gewalt, bei der Integration wie bei den Drogen.
Wir predigen studenlang Wasser - mitten im Weinkeller!

Ein Wochenprojekt findet freitags sein Ende. Eltern wurden eingeladen und helfen ihren Kindern am Buffet, Absolventen berichten aus der Praxis, Schüler arbeiten in der Garderobe, präsentieren ihre Ergebnisse und überzeugen ihre Kameraden. Fotografen marschieren durchs Haus, alles ist aufgelöst in bester Stimmung.
Vom Leerlauf berichte ich nicht, vom Thema auch nicht, ganz andere Lernziele stehen im Vordergrund.

Die Plakate werden weggerräumt, die Tische zurückgestellt, der Müll entsorgt. Am Nachmittag bittet die federführende Organisatorin ("Projektleiterin") die vielen helfenden Gäste zu Speis und Trank: Ein paar Keks, ein Glas Wein. Zuvor hat sie einigen Heinzelmännchen und -mädchen Schokolade geschenkt: "Merci".

Fröhliche Stimmung, Erleichterung, eine Prise Bitterkeit: Nicht nur dass die Projektleiterin am Rande des Nervenzusammenbruchs gestanden ist ("Elf Stationen für neun Gruppen, ich habe fast 40 Mitarbeiter eingesetzt"!), darf sie am Ende noch für die Feier herhalten und zahlen.
"Dafür kriegst du wieder Dank und Anerkennung vom Landesschulrat!"
"Ein Stück Papier und einen warmen Händedruck."
"Immerhin!"

"Wo ist Sabi heute?"
"Im Spital."
Ich frage nicht weiter, das Thema regt zu sehr auf.

Sabis Papa versucht seit Tagen, alle Lehrer zu erreichen. Er kämpft gegen Tränen und ein hartes, fast unerträgliches Schicksal.

Seine Frau, Sabis Mutter, liegt mit schwerer Krankheit im Spital, die Kinder, beide an unserer Schule, leiden mit. Reel. Der Vater versucht neben seinem Beruf, für seine Kinder zu sorgen und seine Frau zu besuchen. Es zerrreisst ihn.

Ich kenne Sabi erst seit Schulbeginn - ein ruhiges, zurückgezogenes Mädchen, das keinen Kopf zum Lernen hat. Ihre Leistungen lassen zu wünschen übrig, eigentlich müsste ich eine "Frühwarnung" nach Hause schicken, ich müsste die Eltern vorladen und allen klar machen, dass Sabi schon eklatante, bedrohliche Lernrückstände aufweist.

"Tu's nicht!", sagt mir eine Kollegin, die Genaueres über die familiären Umstände weiß. "Ich lass' sie einfach durchkommen... und sag' es weiter."

Er lädt sie auf ein Glas Rotwein ein, in ein kleines Restaurant mitten im Quartier Latin. Ihre Schüler verlaufen sich zu Quick, McDonalds und Crepes-Ständen. Am Abend treffen sie sich im billigsten Hotel im Marais und die Gerüchte verstummen nicht mehr:
"Die haben was miteinander."
Zumindest fahren sie gemeinsam mit ihren Klassen nach Frankreich zum Sprachen lernen.

Er kommt der neuen Kollegin einen Schritt entgegen. Er stellt sich vor, lädt sie auf einen Automatenkaffee ein und beide strahlen. Tags darauf borgt er ihr seine "Presse", bringt sie sogar bei ihrem Platz vorbei:
"Die haben was miteinander."

Sie lädt ihren Unterrichtspraktikanten zur Besprechung nach Hause ein. Er kauft eine Schachtel Pralinen und bedankt sich für die professionelle Betreuung bei ihr. Ein erfahrener Kollege nimmt seinen Jungkollegen zur Seite und warnt ihn vor dem Gerede:
"Die haben sicher was miteinander."

Ja, im Lehrkörper arbeiten Menschen und entwickeln sich Beziehungen. Aber eine Erfahrung gebe ich gerne preis: Die sichtbaren Affären sind keine.

"Herr Professor, wissen Sie, von wem die Frau Professor F. ein Kind kriegt?"
"Die F. ist schwanger?"
"Ja sicher. Und raten sie von wem?"
"Keine Ahnung. Woher wisst ihr das alles?"
"Von der Turnlehrerin. Da reden wir halt ... wer die Regel hat ... und wer nicht ..."
"Und wer ist jetzt der Vater?"
"Der neue Musiklehrer."

Am Tag der Offenen Tür laden wir nicht nur unsere zukünftigen, sondern auch unsere ehemaligen SchülerInnen ein.
Das zieht verdammt gut.

Letztere stehen auf der Bühne, in den Klassen oder auf den Gängen und berichten aus ihrer Erfahrung.

"Ich studiere Internationale Betriebswirtschaftslehre und bin so froh, dass ich hier ein ordentliches Englisch gelernt habe."
"Wäre da nicht eine HAK-Matura besser gewesen?"
"Nur am Anfang, in wenigen Rechnungsfächern. Insgesamt hat mir meine Allgemeinbildung mehr geholfen."

Wenn ich das sage, klingt das unglaubwürdig, meiner Absolventin hängen sie an den Lippen. Nicht nur, weil sie jünger und hübscher ist.

"Ich erinnere mich noch gerne an die Sportwochen oder den Maltaaufenthalt. Das ist wirklich so lustig wie im Film!"
"Reden die dort Englisch?"
"Ja. Einfach und verständlich."
"Fahren wir dort auch hin, Herr Professor?"

Ich danke meinen Assistentinnen, die von verschiedenen Unis und Fachhochschulen zu uns strömen und meine Arbeit tun. Da schlägt mir eine Kollegin vor:
"Sollten wir nicht öfter die älteren Schüler für die jüngeren arbeiten lassen? Die kommen doch super an!"

Diesen Gedanken krieg' ich nicht mehr aus meinem Schädel!

Ich gehe mit meiner fünften Klasse ins Kino, um die Argumente von Al Gore zum Thema "Klimaerwärmung" zu thematisieren. Die Klasse hat mich darauf aufmerksam gemacht - unter solchen Umständen engagiere ich mich besonders gerne.

Dabei gehen fünf Unterrichtsstunden verloren, schließlich bin ich von 8.00 bis 13.00 Uhr ausser Haus.

"Weißt Du, was Du mir antust?", fragt mich eine Kollegin süffisant.
"Ahhh .... warum?"
"Mir geht schon wieder eine Lateinstunde verloren."
"Tut mir leid", lüge ich, "aber den Termin konnte ich mir nicht wirklich aussuchen." Was stimmt.

Zwei Tage später steht die Lateinerin wieder im Türrahmen und beginnt zu jammern: "Ich weiß gar nicht, welchen Schularbeitstoff ich der fünften geben soll. Mir gehen so viele Stunden verloren ..."
"Na geh'", bleib ich noch ruhig, "dann wiederholst du halt Stoff von früher. Das kann ja sehr hilfreich sein."
"Ich muss ja mit dem Buch weiter kommen ... und sogar Eltern haben mich angesprochen, warum so viel Latein ausfällt."

Jetzt werde ich laut. Wir müssen das Lateinbuch erfüllen? Wir schieben irgendwelche (fiktiven) Eltern vor? Können wir einmal über den Tellerand hinaus schauen?

Ich habe eine Feindin mehr im Lehrkörper.

 

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