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cotopaxi

 
Helle Aufregung beherrscht die Klassenmitte. Ein Junge hat eine Spinne gefangen, sie krabbelt auf seiner Hand und seilt sich ab.

Darunter wartet mein Zeigefinger. Die Spinne entkommt uns nicht. Die Flucht würde sie nämlich nicht überleben, zu viele Jäger warten mit eingerollten Schulheften hinter unseren Rücken.

Ich bin stolz auf meine mutige Rettungsaktion! Normalerweise greife ich keine Spinnen an, aber wenn ein Elfjähriger couragiert voran marschiert, dann kann ich mir keine Blöße geben.
Ein erwachsener Mann und "Uahh!" - Nee.
"Spinnen sind nützlich! Spinnen helfen uns gegen Ungeziefer."
Ich entlasse das aufgescheuchte Kleintier in den weiberlichen Spätsommer.
Die aufgekratzte Stimmung ist schnell umgeschlagen, schon werden die ängstlichen Mitschüler ausgelacht.
"Aber vor Schlangen habe ich Angst", sage ich beim Zurückgehen zum Lehrertisch in versöhnlichem Ton.
"Die fressen aber Ungeziefer", weiß ein Schlaumax.

"Herr Professor, Sie haben's gut."
"Aha. Warum?"
"Weil ich in der vierten Reihe sitze."

Jetzt sollte ich mich eigentlich auskennen, meint die kecke Schülerin. Tu ich aber nicht.

"Und wieso geht es mir damit besser?"
"Weil ich sonst in der ersten Reihe sitze."
"Aha."
"Ja ... und Sie hören höchstens 70 % meiner blöden Bemerkungen!"

Ich kapiere und reagiere.

"Ach wo. Von dir würde ich auch 100% vertragen."

Flirten wir?

Manche Pause gehört dann uns. Zwei Männer, also seltene Wesen im schulischen Flachland, scherzen sich durch die Gänge. Frauen lachen über andere Dinge, lehrt das Leben. Männer auch.

Wir zitieren aus diversen Zeitungen alle möglichen Ungerechtigkeiten dieser Welt: Mädchen in Mexiko, Journalisten in Russland, Bananenpflücker in Costa Rica. Nicht lustig.
"Meine Homöopathin hat gemeint, es sei ein Wunder, dass nicht ALLE Menschen Depressionen entwickeln."
"Ja, wir leben in einer Scheiß Welt."
"Ich hoffe, dass alles aus ist, nach dem Leben."
"Dafür bete ich!"

Hmmm, darüber haben wir laut gelacht und sind in den Klassen verschwunden.

"Kommt die Assistentin heute wieder?" fragt ein Sprachschüler neugierig.

Ich verstehe seine Mimik und seine Gesten. Er sagt mir gerade, dass die junge, verständnisvolle, lustige, hübsche Unterstützung herzlich willkommen wäre. Notfalls würde man auf meine Anwesenheit sogar gänzlich verzichten und sich sprachlich schon arrangieren... Grins.
Das stößt allerdings an gesetzliche und moralische Grenzen: Ich darf die Assistentin nicht alleine in die Klasse schicken. Schließlich werde ich dafür bezahlt, meine didaktischen und pädagogischen Fähigkeiten zu den fachlichen dazuzumischen.

Als jugendlicher "native speaker" bringt sie Schwung und Authentizität ins Spiel, aber ihre Grenzen werden schnell sichtbar:
"Wie erkläre ich den Gebrauch der Zeiten? Ich nutze sie ganz einfach, unbewusst!"
"Was soll ich mit der letzten Reihe machen? Die passen nicht auf und lachen die ganze Zeit!"
"Ich weiß nicht, ob ich diesen Text verwenden kann, er ist so komisch ... vielleicht zu schwer."

"Nein", muss ich den fragenden Burschen enttäuschen. "Ich bekomme die Assistentin nur jede zweite Woche ein Mal in diese Klasse".
"Naja", grinst er weiter, "die vom letzten Jahr war eh besser."
Seine Hände zeichnen eindeutige Rundungen in die Luft. Ich verstehe seine Gestik und Mimik, finde aber keine pädagogisch, politisch und menschlich korrekte Antwort.
Ziehe grinsend von dannen.

Ich schaue in unsere Pädagogischen Hochschulen und in die Einführungsseminare der Universtitäten und verfalle in tiefe Traurigkeit. Wie jemand, der auf die große Katastrophe wartet.

Ich lerne Deutschstudenten kennen, die massive Probleme mit der Rechtschreibung haben und lieber fernsehen als lesen - sie werden demnächst Deutsch unterrichten. Ich beobachte Studierende, die beim Vortrag Milchshake trinken, die während der Übungen tratschen, weggehen und Zeitung lesen (immerhin!). Ich erlebe Unterrichtspraktika, die weder inhaltlich noch didaktisch stimmen.

Die Dozenten und Lektoren klären mich auf:

"In meiner Übung sitzen ausschließlich Leute, die in anderen Studien gescheitert sind. Jetzt werden sie Lehrer!"
"Die Anmeldungen kommen immer später. Zuerst probieren sie es an einer Fachhochschule, an der Medizin oder so. Zum Schluss kommen sie ins Lehramt."
"Wir teilen die Vorlesungen jetzt auf. Die Diplomstudenten machen das volle Programm, für die Lehrer gibt es eine Kurzfassung."
"Früher haben wir gut 50 % drop-out gehabt, nur die besten sind in die Schulen gekommen. Jetzt müssen wir unsere eigenen Arbeitsplätze schützen, wir brauchen jede einzelne Anmeldung."

Ich fasse zusammen: "Wer ein schwieriges Studium nicht schafft, endet im Lehramt. Die negative Auslese wird durch die Uni durchgeschoben und demnächst als "Frau/Herr Professor" in der Klasse Müll verbreiten."
"Stimmt nicht ... es gibt auch ein paar Idealisten, die Kinder mögen und wirklich gute Arbeit leisten."

Ich weiß, was mit Idealisten an den Schulen passiert!
Ich fürchte mich vor PISA 2015!
Ich ziehe nach Finnland: Numerus clausus für Lehramtsstudenten!

"Mode ist der käufliche Beweis, dass wir uns ständig irren." (C)

Wenn Frauen heute Leggins anziehen und morgen ihre Nasen darüber rümpfen, dann ist das deren Problem. Als Mann ernte ich höchstens schräge Blicke, wenn ich nicht die richtige Farbe oder gar die falsche Knopfanzahl trage.
Es ist nicht leicht, seinen Stil zu pflegen. Zumindest regelmäßig an den (fremden) Zeitgeist adaptieren, das fordert die chice Umwelt ohne Pause.

Um Kleidung kümmere ich mich wenig. Aber die Mode in der Didaktik und Pädagogik macht mir Sorgen: Gestern noch sprach die ganze Fachwelt von "Lernzielen", heute schert sich kein Schwein darum. Haben wir keine mehr? Wir haben tagelang daran herumgefeilt. Für die Katze?
Vorgestern wurde jede Stunde mit kinesiologischen Handgriffen eingeleitet, morgen meditieren wir ins Nirvana. Irgendwann sind Hausübungen Pflicht, irgendwo Tabu. Die einen schwören auf "Soziales Lernen", die anderen gehen in "Freiarbeit" auf.
Sprachen mit der "Naturmethode" oder im "Programmierten Unterricht"?
Witzig ist, wie heftig die Proponenten ihre eigene Methode preisen, bis diese allmählich, still und heimlich untergeht. Platz einer neuen Mode macht. Die sich wieder wahnsinnig gut bewährt.

"Mode ist der käufliche Beweis, dass wir uns ständig irren." (c)

Wir sind zu früh in der Stadt, wir haben auf Einlass zu warten. Ergo stehen 28 SchülerInnen im problematischen Alter zwischen 12 und 14 beschäftigungslos auf dem Gehsteig. Vor uns eine zugeparkte Seitenstraße, hinter uns ein zugeparkter Vorplatz.

John Maynard: "Noch zehn Minuten nach Buffalo"

Bald entdeckt ein Aufgeweckter einen Wagen, der bis ans Dach mit eigenartigem Trödel beladen ist: Gewand neben Buchenholz über Vogelkäfig und Uni-Skripten. Die halbe Schülertruppe fühlt sich magisch angezogen und belagert das renovierungsbedürftige Auto. Sie lehnen an den Kotflügeln, wischen an den Scheiben, drängen sich nach vorne.
Ich muss einschreiten: "Hallo", schreie ich gegen den Verkehrslärm an, "das Auto gehört nicht euch. Lasst es in Ruhe."
Weiter komme ich nicht, weil hinter mir ein Jüngling die Technik eines rückwärtigen Scheibenwischers austestet. Er lernt dabei, dass sich der E-Motor mit viel Kraft überwinden lässt und dass ich auch damit nicht einverstanden bin: "Bist nicht ganz bei Trost oder was?"
Noch heftiger werde ich, als eine abseitige Gruppe beginnt, mit einem Kieselstein das Trottoir zum Fußballfeld zu erweitern. Richtig schreien mag ich nicht, weil sich gerade eine ältere Dame durch die Klasse drängen muss und ich die reglosen Schülerkörper bitte, ausreichend Platz für die Passantin zu machen.
In der Zwischenzeit hat sich eine fadisierte und neugierige Schülerin auf die Fahrbahn gestellt, um besser sehen zu können, was in der Nebengasse abgeht. Mitschülerinnen erkennen deren visuelle Pole-Position und drängen nach, bis ich beginne, über die Nachteile des städtischen Straßenverkehrs mit sorgloser Fußgängerbeteiligung aufzuklären.
Schon wünsche ich mir, zu den autoritären Kollegen wechseln zu können, die mit einem Befehl: "Zweierreihe! Stillstehen!" all diese Probleme erst gar nicht entstehen lassen.
Zu weiter führenden Gedanken über verlorene Autorität komme ich nicht, weil meine SchülerInnen persönlicheren Kontakt zum Autoverkehr aufnehmen: Die ersten winken, die zweiten schreien, schließlich habe ich mehr Stimmung auf dem Trottoir als Österreichs Fußballmannschaft im Stadion.
Zwei Mädchen stellen sich zu mir und sagen: "Die kennen wir nicht ... falls uns jemand fragt."
Auch ich möchte mich am liebsten hinter dem nächsten Baum verstecken. Gerade biegt das rote Auto einer Kollegin ums Eck und diese winkt erstaunt herüber ...

Die Niederlage des Tages.
Mit einem Stapel Kopien unter dem Arm marschiere ich zum Lehrerzimmer. Ein Herr in braunem Sakko kommt die Stufen herauf. Bevor ich im sicheren Hafen verschwinden kann, ruft er hinter mir her: "Tschuldikunk. Sie sind Schulwart?"
"Neee!", reagiere ich plattdeutsch, "da müssen Sie im Erdgeschoß suchen."
Ich drehe mich um und suche in Gedanken Krawatten aus. Was sonst kann ich tun, nie wieder mit dem Schulwart verwechselt zu werden?

"In Ungarn gibt's jetzt eine Natascha, die 13 Jahre gefangen war!"
"Aha."
"Ja, wirklich."
Die Kinder bilden sich mit Gratis-"Heute" und Gratis-"Österreich" weiter.

Die große Natascha-Kampusch-Medienhysterie ist vorüber gegangen. Bis jetzt hat kein einziger meiner Schüler die Geschichte im Unterricht aufgewärmt. Aber der mediale Rekord-Wettlauf "Welches Mädchen war am längsten gefangen" nimmt uns in Beschlag.

"Hoffentlich entführt mich bald ein hübsches Mädchen", greift ein Bursche ein. "Da kann ich nach ein paar Jahren so toll reden wie die Natascha!"
"Und einen Haufen Geld verdienst du auch", pflichten ihm die Nachbarn bei und gehen auf den Zeitungsrummel ein.
"Die hat ihn doch geliebt!" wird unwidersprochen vermutet. Und das Gerücht von der Sado-Maso-Beziehung kennen sie auch.
"Wir wissen doch alle nicht, was wirklich passiert ist. Wir haben nur ein paar Geschichten im Fernsehen und in den Zeitungen gesehen. Und ständig sind Berater, Psychologen, Anwälte und so um sie herumgeschwirrt." Ich versuche zu verdeutlichen, dass Medien keine Wirklichkeit, sondern Storys verkaufen.

Aber ich scheitere. Zu viele, auch gescheite Leute, haben zu oft und zu öffentlich bewiesen, dass sie das Mädchen, deren Sprache und Wissen, ihr Verhalten, ihren Mut, ihre ganze Persönlichkeit verstehen und schätzen. Die unbekannte Frau des Jahrhunderts.
Ein kleiner Lehrer meint halt, nichts als Show rund um ein gequältes Mädchen erlebt zu haben. Sein Problem.

Beim Hinausgehen sehe ich ein unscheinbares Schwarz-Weiß-Plakat am Schultor kleben: www.findetjulia.org.
Jemand fragt mich: "Ist die von hier verschwunden?"
"Nein, die verzweifelten Eltern suchen das Mächen einfach überall."
Die Wirklichkeit holt uns schmerzhaft ein. Hunderte andere Kinder warten auf ihre Befreiung.
Schickt endlich Journalisten hin!

Grundriss und Aufriss in der 1.Klasse? Da steigen wir sanft und bildhaft ein, sonst flüchten die kleinen Gehirne durchs Fenster ins Grün.
Wir zeichnen.
Ein Haus von vorne, mit Fenster, Türen, Dach.
Das gleiche Haus in 3 D. Das können einige besser als ich an der Tafel.

Aufgabe: Wie sieht das der Pilot aus dem Flugzeug. Das fliegt gerade über dem Haus. Foto-Klick: "Wie schaut das auf dem Luftbild aus?"

Das finden Kinder spannend, sie arbeiten ruhig und konzentriert.
Nur C. nicht. Er rutscht auf seinem Sessel herum und sagt ganz ungeniert: "Das ist fad. Ich mag nicht mehr."
Er lehnt sich zurück, dreht sich um und schaut den anderen beim Werken zu.
Ich gehe zu ihm, schaue in sein Heft und lobe ihn für die bereits getane Arbeit: "Das schaut ja gut aus, das hast du toll gezeichnet."
Lob irritiert ihn, er hat mit dem Gegenteil gerechnet. Aber es motiviert ihn nicht, weiter zu machen.

Ich skizziere eine Kirche in 3 D auf die Tafel. Schrägaufnahme.
"Wie schaut die Kirche von oben aus? Senkrechtaufnahme!"

Die Kinder machen kreative Vorschläge, erkennen, dass man nicht 100 % sicher sein kann:
"Ich sehe nicht, ob der Turm genauso breit ist wie die Kirche."
Der Vordergrund verdeckt einen Teil des Hintergrundes, der Grundriss legt alles offen. Taugt besser für einen Bauplan, besser für eine topographische Karte. Bingo!

C. ist ins Abseits gerutscht, steht mit seiner Verweigerungstaktik alleine da. Findet keine Mitstreiter, weil diese interessiert an ihren Plänen zeichnen, auch Signaturen erfinden und Legenden erstellen.

"So! Und jetzt das Ganze im Maßstab 1:200. Wie schaut das dann aus?"

C. hat nach drei Wochen AHS und 10 Minuten Unterricht schon das Handtuch geworfen. Wie gibt es das?

Ich beruhige mich: Einer von 29.
Ich beunruhige mich: Wie soll das weitergehen?

Die Presse zitiert eine aktuelle Weltbankstudie, die zu einem ernüchternden Resumee zwingt: Wir leben in einer extrem unfairen Welt - und weder Entwicklungshilfe noch Liberalisierung des Welthandels ändern daran etwas.

Den künftigen Maturanten versuche ich den im Zeitungsartikel erwähnten "Gini-Koeffizienten" mittels der so genannten "Lorenzkurve" zu verdeutlichen. Irgendwie gerät dieses hehre Ansinnen in eine Schieflage und ich stehe verwirrt an der Tafel: Wird die Y-Achse aufsteigend von 0 auf 100 % oder doch absteigend konstruiert und liegt auf der X-Achse Einkommen oder Vermögen? Vielleicht ist doch alles umgekehrt? Ich habe mein Erinnerungsvermögen überschätzt, meine Kreidenskizze zerrinnt im Stress.

In meiner intellektuellen Not wende ich mich an die Klasse, an Steffi S., einer schlauen Schülerin, die mitdenkt, und an Walter K., einem Notebook-Freak. Während erstere mit mathematischer Logik eine alternative Skizze entwirft, surft zweiterer zur wikipedia und lädt die Kurven runter.
Eigentlich stehe ich blöd da, aber meine Ziele habe ich vollständig erreicht: Die Skizzen stimmen und die Schüler haben sich selbst geholfen. Sie verstehen letztlich, was die Presse mit dem Gini-Koeffizienten meint.

Besser gehts nicht: Ich habe den Fisch nicht gefangen, aber meine Schüler angeleitet, die Netze richtig einzusetzen.

Schade, dass ich diese Stunde so nicht geplant hatte. Und dass der schale Geschmack meines Versagens die Klassenluft mein Selbstbewusstsein belastet.

 

twoday.net AGB

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