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cotopaxi

 
In manchen Klassen gelingt es. Der Lehrer geht gerne hinein, die Schüler spüren es und geben alles zurück, was in sie investiert wird. Die positive Verstärkung führt zu guten Ergebnissen und menschlichem Verstehen. Halleluja!
Diese Klassen beobachte ich mit besonderen Argusaugen. Zum einen möchte ich entdecken, warum es genau dort funktioniert und zum anderen diesen guten Draht nicht verlieren. Also: Obacht!

Zuletzt stieß ich in einer ziemlich reifen Gruppe von 17- und 18-Jährigen auf folgendes Phänomen:

Ich bin ein Mann.

Wenn ich den Mädchen entgegenkam, wenn ich kitschige Bemerkungen machte ("süüüß") oder kommunikative Aufgaben stellte, fror das Lachen der Burschen ein. Ich gewann die Bewunderung der weiblichen Schüler nur auf Kosten der männlichen.
Zielte ich mit technischen Ansprüchen ("Referat als podcast!") oder herben Witzen auf die männliche Seite der Klassengemeinschaft, zogen sich die Mädchen zurück und warfen mir machistisches Gehaben vor.

Kam ich bei den Mädchen an, konkurrierte ich mit den Burschen. Fand ich Bewunderung bei den Burschen, rebellierten die Mädchen.
Nein, nicht offen, nicht direkt, kaum merkbar, gerade noch spürbar. Subkutan. Ich gebe besondere Obacht, wie gesagt, weil ... und damit es funktioniert.

Beim Verfassen und Überlesen des Textes wird mir die Banalität dieser Aussagen klar. "Na net" oder "Eh klar", werden fest geerdete Mitmenschen mit den Schultern zucken.

Mein Schlüsse:
1. Unterrichten ist eine hormonelle Gratwanderung über unsichtbare Fettnäpfe.
2. Eigentlich haben wir nichts im Griff.

Beverly ist ein nettes Mädchen, alle lieben sie und arbeiten gerne mit ihr. Beverly macht einen harten Job und schenkt viel Freude als Therapiehund.
Wenn sie läufig ist, braucht sie besonders viel Aufmerksamkeit, sie geht auf Urlaub, an Therapiearbeit ist nicht zu denken.

Schade, dass wir in der Schule keinen Platz für den Golden Retriever haben, aber träumen darf ich doch?

Eigentlich träume ich nicht von den pädagogischen Fähigkeiten von Haustieren, sondern vom Vorbild, das mir die läufige Hündin liefert: Wenn sie von ihren Hormonen überschwemmt wird (zwei Mal im Jahr), verdient sie eine Pause.
Sinngemäß würde ich gerne hochpubertierenden Kindern den öden Schulalltag erparen, an sinnvolle Arbeit ist ohnehin nicht zu denken. Ich würde sie zum Sport schicken, in die Natur stecken, zur Kunst bringen ... ich würde ihnen das Lernen verbieten! Kognitive Auszeit! Sie sollten sich mit ihrem Körper, mit ihrem - und dem anderen - Geschlecht, mit dem Sinn des Lebens beschäftigen. Mathematik verboten. Sie dürfen gegen Sandsäcke boxen, Gartenbeete umgraben und Musical tanzen. Keine Bücher, keine Hefte, keine Bleistifte.

Der Traum vom hormonellen Sabbatical verfolgt mich in jede Klasse, in der es nach gestressten Pickelgesichtern riecht. Dort zerplatzt er in Widerwillen und Disziplindruck.

In diesem Freijahr würde das Interesse an Schule, der Wissensdurst und die Neugierde wieder erwachen... träume ich weiter.

Wir haben gewonnen. Ein lyrisches Medienprojekt hat die Jury überzeugt und wird vor großem Publikum präsentiert.
Einladung zum ORF.
"Wer geht auf die Bühne? ... Gemeinsam mit Isi?"
(Isi stand von vornherein fest: Sie hat Engagement, Erfahrung und das Zeug zur "Bühnensau")
Keiner drängt sich nach vorne. Scheu vor 500 Zusehern?
"Und du, Bettina?"
(Bettina hat eine umwerfende Radiostimme ... und beachtliches Selbstbewusstsein)
"Ich weiß nicht ... neben der Isi schau ich aus wie ein Bauerntrampel."
Daher weht der Wind.
"Was wirst Du anziehen, Isi?", fragt sie nach.

Ich weiß jetzt:
Interesse ist da, aber an einer übermächtigen Konkurrentin möchte sie nicht scheitern.
Ich weiß auch:
Sie werden sich abstimmen, ich brauche mich nicht weiter damit beschäftigen. Mädchenspiele, feine Klinge.

"Es gibt vieles, was wir über Frauen lernen müssen", steht in den Augen der Burschen geschrieben. Sie bleiben dezent im Hintergrund, gröhlen lieber vor kleinem Publikum. Heimspiele, grobes Holz.

Der Begriff, vermute ich, ist neu, der Inhalt hingegen nicht.

Daniel Gottlob Moritz Schreber beschäftigte sich als Arzt und Dozent intensiv mit der Gesundheit von Kindern. Deshalb forderte er die Errichtung von Spielplätzen, eine Idee, die von seinem Schwiegersohn, einem Schuldirektor, umgesetzt wurde: Er legte eine Spielwiese mit Gartenbeeten an, welche von den Schülern zu pflegen waren.
Bald ging deren Interesse verloren und engagierte Eltern kümmerten sich um die Gärten, die später parzelliert und umzäunt zu den wohl bekannten "Schrebergärten" wurden.

Eine gute pädagogische Idee hat seine marktwirtschaftliche Verwirklichung gefunden. Seither kämpfen kitschige Gartenzwerge mit chemischem Rasendünger ums biologische Überleben; die Kinder hängen inzwischen vor den Fernsehgeräten und lachen über die biederen Schrebergärtner.

Das nenne ich den Schreber-Effekt, er demonstriert so klar, wie Schule funktioniert: Sie frisst gute Ideen auf.

'Wir hassen es: Matura korrigieren ist angesagt.
Die Maturanten sitzen einen ganzen Vormittag über seltsamen Maturathemen und schreiben seitenweise Dinge, die wir von ihnen erwarten.
Machen Fehler, die wir auch erwarten.

Dann warten sie auf unser gottgefälliges Urteil.

Wir kaufen rote Fineliner. Extradünn, viel unauffälliger als die patzenden BIC-Kugelschreiber der Jahre davor. Die Maturaarbeit soll nicht rot, sondern positiv ausschauen, wir wollen ja die Vorsitzenden von unserer Qualität überzeugen.

Wir lesen die Arbeiten, korrigeren sie, überarbeiten sie ein drittes Mal. Wir finden fast jeden Fehler, jedenfalls mehr als bei normalen Schularbeiten, die wir lässig überfliegen. Wir fragen die Assistenten, die Kollegen oder im Internet, damit uns ja kein Patzer entkommt. Tendenziell müssten daher die Klausurnoten schlechter ausfallen als die vielen Schularbeiten davor. Tun sie aber nicht, weil wir die Beispiele und Themen auffallend gut eingeübt haben, weil wir das Anspruchsniveau der Prüfungsfragen schonend herunterschrauben. Weil wir die Aufgaben den Schülern förmlich auf den Leib schneidern.

"Die Presse" nennt das "Schummeln der Lehrer". Weil schwache Lehrer am meisten zu befürchten haben, müssen schwache Lehrer am meisten schummeln. Sie geben klare Hinweise, lassen Aufgaben in den Klassen liegen, helfen sogar während der Klausur mit Tipps und Lösungsansätzen. Geradlinige, korrekte und unparteiische Lehrer machen sich doppelt unbeliebt. Sie geben strengere Aufgaben und helfen nicht dabei. Deren Schüler können zwar mehr, bekommen aber die schlechteren Noten.

Ich wiederhole mich: Nehmt den Unterrichtenden die Noten weg.

"Da warten zwei Mädchen draußen ... ziemlich verweint!", warnt mich eine Kollegin im Lehrerzimmer.
Jausenbrot zur Seite legen, Pause abbrechen.
"Was ist los?"
Das verweinte Mädchen bleibt sprachlos, die Begleitung erklärt:
"Die Clarissa hat kein Spezialgebiet mehr, keines!"
"Drei Wochen vor der Matura ... ohne Spezialgebiet?"
"Ja. Ihr Computer ist kaputt, der ist runtergefallen ... jetzt ist alles weg."
"Keine Sicherung?"
"Nicht alles."
"Und kein Ausdruck?"
"Nur alte Versionen. Aber das, was Sie korrigiert haben, das ist weg."
"Moment, bevor ich jetzt noch einmal alles korrigiere, probiert es mit Knoppix."
"Womit? Wie schreibt man das?"
"K-N-O-P-P-I-X. Das kann ich dir borgen. Das ist eine Linux-Version, die startet den Computer von einer DVD ... und dann kann man versuchen, die Dateien im nachhinein zu sichern."
"Wie geht das?"
"Kennst du jemand, der mit Linux umgehen kann?"
"Ich werde meinen Freund fragen ... Aber bis dahin, was soll ich ohne Spezialgebiet tun?"
"Alles andere lernen. Für die Matura gibt es ja noch genug andere Arbeit ... und die Freundschaft pflegen!"

P.S.: Mit Rotstift auf Papier korrigieren, das hat so seine Vorteile!

Ich spüre das klassische Drama, wie es sich selbst inszeniert: Die Helden erkennen das tragische Ende und führen es mit ihren Gegenmaßnahmen erst recht herbei.
Bildung und Schule gehen den Bach hinunter. Wer es sieht und sich "Feuer!" schreiend dagegen stemmt, der kriegt öffentlich sein Fett ab. Er gibt dann auf und die Schule geht den Bach hinunter.

Schule muss sich der Wirklichkeit öffnen. Das alte Bildungsideal der Gymnasien verliert deswegen gegen die technisch-praktische Ausbildung der BHS oder HTL, weil Latein, Geschichte oder Bildnerische Erziehung gegen Elektrotechnik, EDV oder Rechnungswesen alt ausschauen und modrig riechen. Alle Maßnahmen, die von AHS-Oberstufen zur Schulentwicklung geleistet werden, dienen daher primär dem Ziel, praktisch anwendbares Wissen zu forcieren.
(Sekundär: Attraktive Fächer zu erfinden, deren Titel toll klingen und halbinformierte Bewerber anziehen)
Müssen wir uns auch den Realitäten von Globalisierung und Liberalisierung anpassen? Müssen wir unsere Absolventen gegen Arbeitskräfte aus Polen, Vietnam und Marokko antreten lassen? Müssen wir ICH-AGs gründen, Wettbewerb simulieren und auf gnadenlosen Wirtschaftsdarwinismus vorbereiten? Müssen wir auch die Härten von Arbeitslosigkeit, Gehaltskürzungen und prekären Beschäftigungsverhältnissen thematisieren?

Oder bleiben wir im sanften Kuscheleck, verführen zu pädagogisch wertvollen Spielen und streicheln die Underperformer zu konkurrenzlosem Selbstbewusstsein?

Schon gut, nicht aufregen! Ich skizziere die Extreme, die mir zu Ohr kommen. Wir brauchen weder dunkelschwarz noch hellweiß zu sehen, wir können auch in bunten Grautönen formulieren. Das hebt den kritischen Denker vom plappernden Dumpfgummi ab - die feinen Farbtöne zwischen den Extremen. Trotzdem zwickt der Spagat in den Eingeweiden: Hören wir auf das Klimpern der Wirtschaftstreibenden oder auf das Schnaufen der Menschenfreunde?
Dabei sind sich beide einig: Schule ist schlecht, Lehrer sind schlecht.
Egal, die Schule geht den Bach hinunter. Ich sehe es, ich denke mir's, aber das klassische Drama kennt keinen Ausweg.

Eine Frau erscheint im Kopierraum.
Sie hält ein Handy griffbereit in der linken Hand, eine Büroklammer in der rechten.
Sie tritt ein und wartet. Sie drängt nicht zu den Kopierern, sie geht nicht zur Video-Anlage, sie braucht auch kein Papier. Sie wartet und ich frage mich, was sie wohl zum Frühstück getrunken hat.
(Muss was sein, was ziemlich einfährt!)

Dann läutet das Telefon und sie wird rege, hantiert mit der Büroklammer, tippt auf dem Kopiergerät herum und spricht seltsame Codes.

Wir warten.

"So, das müsste wieder funktionieren: Reset, acht Mal die Null drücken und den Wartungscode eingeben."

"Aaaah, haben sie das Gerät aus dem Tiefschlaf geholt?"
"Ja. Die Wartung funktioniert jetzt so. Aus dem Call-Center ruft ein Techniker an ... und ich arbeite."
"Mit einer Büroklammer?"
"Ja! Man muss sie nur aufbiegen."
"Darf ich sie McGyver nennen?"

Endlich gehören wir zur großen Welt, endlich hat auch in unserer Schule jemand ein Pornovideo aufs Handy geladen und stolz weitergezeigt.
Ein Elfjähriger, ein Berüchtigter, in der "1 F ... f wie fürchterlich".
Nun heißt es überlegen: Wie gehen wir vor?

Eine Kollegin zeigt mit zwei Fingern, wie groß das Handydisplay war: "Was kann man darauf schon erkennen?"

Früher wäre ein Aufschrei durch die Hallen gegangen, die Damen hätten die moralische Apokalypse gerochen, Maßnahmen gegen alle Sexismen der Welt gefordert und "Wehret den Anfängen!" geschrien.

Kommt ein Hardliner-Vorschlag: Wir sollten eine Disziplinarkonferenz einberufen! Also 100 Lehrer am Nachmittag versammeln, den Täter zur Rechenschaft ziehen, sprich bloßstellen, ein Urteil verkünden (schlimmstenfalls droht ihm eine Verwarnung).

Heutzutage geht es ums Deeskalieren, im eigenen Interesse.
Die Generation wächst mit Pornos auf, na und? Wir können uns die Konferenz sparen und heimgehen.

Eine mutige Stimme erkundigt sich schüchtern: "Hat den Film jemand gesehen?" Es war eine Frau, die konkret nachforscht - einem Mann hätte man voyeuristische Neugier unterstellt.
Niemand? Worüber diskutieren wir eigentlich?

Sehen Sie? Wir haben dazugelernt! Wie die modernen Eltern lassen die modernen Lehrer alles durchgehen.
Mangels an Beweisen?
Nein, es macht weniger Arbeit und erspart aufwändige Auseinandersetzungen. Die Ergebnisse dieser bequemen "Laissez-faire-Erziehung" spüren wir erst in 20 Jahren, da bin ich längst in Pension! Gute Nacht.

Nein, in Nizza herrscht kein allgemeines Ausgehverbot. Nur unsere Schüler, die dort französisches Flair aufsaugen sollen, müssen bei Einbruch der Dunkelheit bei ihren Gastfamilien in Sicherheit gebracht werden.
Nizza liegt nicht in den Favelas vor Sao Paulo, Nizza ist ein schöner Urlaubsort mit mediterraner Stimmung, einer netten Altstadt mit schönen Häusern und teuren Lokalen. Nizza gehört deshalb zu den beliebten Zielorten von Sprachintensivwochen: Eine Klasse - eine Woche - volles Eintauchen in die fremde Sprache, so die Formel dieser Exkursionen.
Diese Projekte stehen und fallen mit der Qualität der Gasteltern. Da haben wir unterschiedlichste Erfahrungen gemacht. Unwillige, überforderte, haschende, geizige, belästigende Gastgeber kann man notfalls innerhalb einer Stunde austauschen, dafür garantiert die lokalen Betreuung.
Was wir nicht wegbeamen können?
Die soziale Umgebung. Viele Gastfamilien verdienen sich mit unseren zahlenden Schülern ein kleines Zubrot, besonders in prekären Situationen, bei geringem Einkommen, bei Arbeitslosigkeit. Diese Familien wohnen häufig in den berühmt-berüchtigten "banlieues", in den heißen Zonen, wo sich die sozialen Probleme des Neoliberalismus konzentrieren.
"Wir haben uns sowieso nicht hinaus getraut", versteht ein Siebzehnjähriger das nächtliche Ausgangsverbot. "Da lungern Typen herum, da muss ich nicht anstreifen."

Wie weit sind wir mitten in Europa gefallen? Jugendliche können Jugendliche nicht mehr treffen, um Kontakt und Verständnis aufzubauen. Jugendliche haben vor Jugendlichen Angst, ziehen sich hinter Fernseher und Computer zurück und freuen sich auf die Heimfahrt.
Wir haben unseren Nachwuchs nicht im Griff, und er beginnt darunter zu leiden.

Im Lehrerzimmer stehen sieben leere Axe-Dosen. Auf dem Gang stinkt es penetrant nach Deo. Was ist heute los?
Die Wirtschaft hat den Konsumenten der Zukunft entdeckt und verteilt Werbegeschenke an Schulkinder: Hunderte schwarze Minidosen verbrüdern sich im Schulgebäude zu einer olfaktorischen Bombe.
Es stinkt. Kinder husten und flüchten zum Fenster. Lehrer entwaffnen kleine Biester, die Deos zum Sturmangriff nützen.
Werbung, die wirkt.
AXE stinkt. Zumindest pädagogisch.

P.S.: Fünf der Spraydosen stehen jetzt am Herrenklo und bekamen neue Bezeichnungen: Moschus brutalus.

PPS.: Die hübschen Werbemädchen vor der Schule geben nicht auf. Auch am zweiten Tag verteilen sie fleißig schwarze Deosprays unter unseren Halbwüchsigen. Diese haben dazugelernt und Klebeband mitgenommen. "Wozu?", fragte ich mich und beobachte sie aus der Ferne.
Einer drückt auf die Dose, der andere klebt das Tesaband drüber - fertig ist die Stinkbombe: Sie sprüht und sprüht und sprüht ... bis ans bittere Ende. Das ich ohne Gasmaske setzen muss.
Lehrerjob, harter Job.

 

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