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cotopaxi

 
In der Mitte des Spielplatzes steht ein zehn Meter hoher Metallpfosten, der nach allen Seiten mit bunten Seilen spinnennetzartig abgespannt ist. Das ist mein heutiges Ziel, nachdem eine Kollegin überraschend "erkrankt" ist. Die letzten Unterrichtsstunden sinnvoll zu füllen, das ist oft anstrengender als man denkt.

"So, um halb 12 Uhr treffen wir uns wieder bei diesem Eingang. Nicht zum Wasser gehen ... und passt auf den Seilen auf."

Fünfundzwanzig Kinder um die zehn Jahre stürzen mit Geheul auf die Spinne. Ich beobachte, wer wie schnell wo seine Markierung setzt. Ganz vorne platzieren sich Matthias und Berti, sehr wendige und sportliche Typen, aber sie werden von Super-Sonja eingeholt. Sie besetzt die Spitze und beginnt gleich das Gerät ordentlich durchzuschütteln, bis die ersten ängstlich "Hör auf!" schreien.

Ich kremple meine Ärmel auf und wage mich in die Seile. Auf halber Höhe bietet mir Nina ihren Ausguck an: "Wir rücken zusammen." Aber ich will ganz nach oben, um einschätzen zu können, wie stabil das Kletternetz in der Höhe hält.

"Der Gernot kann nicht mehr atmen!", höre ich just, als ich bei Sonja oben angelangt bin und drehe sofort um. Gernot sitzt blass auf einer Gartenbank und hört den Mädchen zu, die mir die Erklärung liefern:
"Der Rudi ist der Anstifter! Der Rudi hat gesagt: "Das ist die Aufnahmeprüfung!""
"Gernot, tut dir was weh?"
Die Mädchen: "Der Rudi hat einen Überschlag gemacht."
Ich schaue mir die Arme von Gernot an und drücke auf seinen Brustkorb, wo noch der braune Staub auf seinem T-Shirt klebt.
"Sind Sie Arzt?", fragt (m)eine(!) Schülerin.
"Ich habe Erste-Hilfe-Kurse gemacht."
Endlich kommt auch Gernot zum Reden:
"Nein, geht schon."

Der Rudi hat wieder einmal seine Schläue ausgespielt und mit dem Sturzpiloten Gernot getestet, ob die Hängematte zum Durchdrehen ist. Ergebnis: Es funktioniert, allerdings fällt die Besatzung unsanft auf den Boden. Deswegen ist Rudi verschwunden, als die Mädchen Alarm geschrieen haben und der gutmütige Gernot um Atemluft gerungen hat.

Ich kann mich wieder dem Kletterturm zuwenden, der inzwischen an Attraktivität verloren hat. Die oberen Plätze sind frei geworden und die zweite Riege wagt sich an den Aufstieg. Ganz unten - räumlich und soziologisch - turnen allein und ruhig ein scheues Mädchen aus Bangladesh und eine Schülerin mit Sprachbehinderung. Die zwei übergewichtigen Burschen tippen ím Schatten auf ihren Gameboys herum.
"Purer Hühernhof", denke ich und versuche das (hyper)aktive Alpha-Huhn Rudi und das geschockte Omega-Huhn Gernot nicht mehr aus den Augen zu verlieren.

Im Kopf zeichne ich ein vierdimensionales Soziogramm. Hier am Mast erkennt man sofort, welche Rollen die Kinder in der Klasse spielen. Wer dominiert und wer ausführt, wer wann welche Position besetzen darf: Ein 4D-Soziogramm mit einem Verlierer.
Hauptsache, er atmet wieder.
Kinkerlitzch3n meinte am 25. Jun, 22:19:
Glück gehabt, da wird's einem schnell noch heißer, als es ohnehin schon ist! 
teacher antwortete am 26. Jun, 07:52:
Ja, da atmet man wieder durch. 
Sternenstaub meinte am 25. Jun, 22:41:
Schwein gehabt - sagte die Sau .......

tja manche Dinge ändern sich halt doch nicht, egal wie technologisch unsere Welt auch wird ...... 
teacher antwortete am 26. Jun, 07:53:
Das ist den Eltern völlig fremd: Ihre Kinder spielen in der Großgruppe eine (ihnen) unbekannte Rolle - für die sie täglich kämpfen. 
walküre antwortete am 26. Jun, 09:12:
Nicht allen Eltern,
aber viele sind von der komplexen Dynamik einer Gruppe hoffnungslos überfordert. Und nicht nur die Eltern, sondern leider oft genug auch Pädagogen. Was gerne unberücksichtigt bleibt: Bei Kindern verhält es sich oft genug so, dass ihnen aufgrund schulischer Erlebnisse lebenslang Narben auf der Seele bleiben (und das Vertrauen in Eltern und Lehrer schwindet, weil sie nicht Schutz finden, wo sie welchen bräuchten). 
teacher antwortete am 26. Jun, 11:16:
Ja. Besonders in den höheren Schulen, wo wir die Klassen nur 2- 4 Stunden pro Woche sehen, können wir auch überhaupt nicht eingreifen, sollten wir (eher zufällig) solche Hackordnungen durchschauen.
Ich gehe in jede Klasse/Gruppe mit einer Art mentalem Soziogramm hinein - das hilft mir beim Verstehen mancher schülerischer Reaktionen. Ändern kann ich dadurch nicht viel. 
Der_Eisenschmyd antwortete am 26. Jun, 11:27:
"Bei Kindern verhält es sich oft genug so, dass ihnen aufgrund schulischer Erlebnisse lebenslang Narben auf der Seele bleiben (und das Vertrauen in Eltern und Lehrer schwindet, weil sie nicht Schutz finden, wo sie welchen bräuchten)"

Da denk ich verbittert an meine Kindergarten und Grundschulzeit (Klasse 1-4). Da ist viel Vertrauen verloren gegangen, erst ab der Klasse 9 wurde das wieder besser. Letzte Reste merkt man noch heute, 21 Jahre später 
teacher antwortete am 26. Jun, 11:39:
Ich nehme mal an, dass die Betreuer und Lehrer das gar nicht explizit erkannt haben.
Uns ist oft nicht bewusst, welche psychologischen Tsunami im Untergrund toben! 
Der_Eisenschmyd antwortete am 27. Jun, 11:26:
Naja, es gibt sicher solche Situationen, die die Lehrperson nicht erkannt haben, solche Dinge haben sich dann aber auch unter uns Schülern geregelt.
Was aber würden Sie machen, wenn Sie folgendes sehen:
Ein Schüler rennt wie wild über den Pausenhof, verfolgt von einem anderen mit einer Rasierklinge in der Hand (der will auch eine Rangfolge klarstellen).
Drei Minuten später klopft es am Lehrerzimmer, ein Schüler mit blutiger Schnittwunde steht vor der Tür. 
teacher antwortete am 27. Jun, 18:24:
Klarerweise muss man akute Gefahren zunächst beseitigen. Es reicht aber nicht, die Rasierklinge zu kassieren bzw. den Angreifer zu "neutralisieren", man kann sich von aktuellen Anlass ausgehend mit den Hintergründen der Auseinandersetzung (Rangordnung) beschäftigen. Das hilft oft beiden Kontrahenten. 
Der_Eisenschmyd antwortete am 28. Jun, 09:59:
Wie ist es ausgegangen:

Nachdem ich mit meinem blutigen Arm am Lehrerzimmer geklopft hatte, schaute mich der Lehrer nur an und sagte: "geh nach Hause und lass dich von deiner Mutter verbinden (ich wohnte nur drei Gehminuten von der Schule entfernt)"
Wenn der dich mit ner Klinge verfolgt und dich schneidet mußt du ihn ja sehr geärgert haben, sonst würde das nicht passieren, du bist selber Schuld.

Und was sagt das dem kleinen Eisenschmyd. Lehrer kann man nicht trauen, sie bieten keine Hilfe in einer Notlage und es ist nur recht, wenn ich jemand mit einer Rasierklinge verletze. Das darf man also ungestraft machen. 
teacher antwortete am 28. Jun, 10:12:
Das ist ein starkes Ding.
Bei (Gefahr auf) Verletzungen ist auf alle Fälle einzugreifen! 
Der_Eisenschmyd antwortete am 28. Jun, 10:47:
Jetzt sage ich mir immer, das waren die Erziehungsmethoden der 70er Jahre...
Im großen und ganzen war auf der Grundschule alles OK, aber eine Handvoll Idioten reichte schon aus.
Ein anderes Problem war die an der Grundschule angrenzende Hauptschule, an der die härteren Jungs unterrichtet wurden.
Wer auf den Schulhof "gezogen" wurde, der hatte nichts mehr zu lachen. Aber das waren diejenigen ja AUCH selber Schuld. Was lassen die sich auch von den Hauptschülern fangen.(die auf dem Grundschulhof gar nichts zu suchen hatten)

Also in der Richtung ist dort einiges schief gelaufen. Wer geschlagen oder verletzt wurde, war selber schuld und die Täter kamen davon.
Und zuhause gab es dann noch zusätzlich Ärger. Denn wenn der Lehrer sagt, der Eisenschmyd wars schuld, haben die Eltern das blind geglaubt, denn nach deren Meinung hat der Lehrer immer recht.
Meine Erzählung des Geschehenen wurde als Lüge hingestellt und BASTA!

Letztendlich konnten sie sich solche Dinge wohl nicht vorstellen. 
walküre antwortete am 28. Jun, 10:55:
Heute verhält es sich
vielfach genau umgekehrt: Das Kind wird auf ein Podest gehoben und hat Narrenfreiheit, wohingegen der Lehrer vor dem Kind als Trottel abqualifiziert wird (Diese Mentalität greift leider zusehends Raum und stellt nicht nur in der derzeitigen Klasse meiner Tochter ein gravierendes Problem dar). 
monsi2403 meinte am 26. Jun, 14:52:
gut beschrieben, habe ähnliches bei der Klassenfahrt meiner Tochter beobachtet... 
teacher antwortete am 26. Jun, 15:42:
Für Eltern muss das besonders interessant sein, weil sie ihre Kinder von einer anderen Seite kennen lernen. Umgekehrt beeinflusst die Anwesenheit einer Mutter diese Kraftverteilung oft erheblich (eingeschüchtert oder mutig, je nach Eltern-Kind-Verhältnis). 
 

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