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cotopaxi

 
Plötzlich entsteht eine unbegründete Unruhe im Klassenraum.
Die neue, außerordentliche Schülerin aus Südasien blättert verzweifelt in ihrem Wörterbuch, das wir nur schwerlich entziffern können. Stichwort: "Nudelschrift".
Sie wendet sich an den intellektuellen Leuchtturm der Klasse und bleibt enttäuscht.
Ich unterbreche meine Erklärungen zum Thema Konjunktiv.
"Wo ist das Problem?"
"Sie weiß nicht, was Ähren sind."
"Hast Du's ihr erklärt?"
"Nein. Ich kenn das Wort nicht ... und in ihrem Wörterbuch kommt was Seltsames heraus: Haare oder so."
In der ganzen Klasse von 17- bis 19-jährigen scheitern alle an einem Wort: Ähre.
Ich greife zur letzten Rettung und beginne mit Händen und Füßen, auf Englisch, die Haare von Getreidepflanzen zu verdeutlichen.
Und frage zum Schluss: "Was hat das mit unserem Grammatikthema zu tun?"
"Nothing. I'm still in the last lession. We learned about nutrition."
Warum hat in der letzten Stunde niemand gefragt, was Ähren sind?

Denken Sie kurz an ihren wichtigsten Schulnachbarn.
Hatte er/sie einen Tick?
Wenn ich hospitierend Kollegen oder Klassen beobachte, stechen mir immer wieder Alltag-Ticks ins Auge:
Armin kann nicht ruhig sitzen, er wackelt ohne Ende mit dem linken Bein, die Schulbank wippt rhythmisch mit. Der abgebrühte Nachbar erträgt das mit stoischer Ruhe.
Sue kritzelt ständig auf der Tischplatte herum, hat diese mit einem Packpapier überzogen, damit sie die Kunstwerke ab und zu austauschen kann.
Marianne fährt sich regelmäßig mit den Händen durchs Haar, bis nach fünf Stunden Unterricht der fettige Glanz nach einer Dusche giert.
Die Kollegin sucht fieberhaft nach Schreibstiften, mit denen sie so lange herumspielt, bis sie irgendwo verloren gehen. Weitersuchen, weiterspielen. Nervig.
Hubsi kaut. Kaut Kaugummi, kaut Bleistifte, kaut Nägel, kaut Bücher, ich fordere medizinische Handschuhe zum Korrigieren seiner Hefte.
Chris hat allein in meinen Stunden drei Abstürze geliefert. Er schaukelt und trotz seiner jahrelangen Übung verliert er das Gleichgewicht. Zum Lachen - bis es schiefgeht.
Selma pfaucht. Sie beherrscht die Muskulatur um die Nasenlöchern wie die Philharmoniker das Konzerthaus, leider klingt es anders.
Tom stochert begeistert mit zwei Fingern in den Luftraum seines Vordermannes. Es ist ihm nicht auszureden, dass Mitarbeit nicht in "Bitte-Ich"-Schreien besteht.
Carla liebt ihren Nabel. Sie trägt ihn auch winters zu Schau und spielt darin mit entzückter Miene. Ein Fortschritt, das Nasenbohren hat sie aufgegeben.
Ines hat einen schweren Klopfer: Ihre Finger finden auf der Tischplatte keine Ruhe, ihren Fingernägeln (und meinen Ohren) zuliebe wurde eine bunte Schreibunterlage angekauft.
Andy kneift wie eine altersschwache Pendeluhr. Er verkrampft nicht umsonst die gesamte Gesichtsmitte, er schiebt damit die herabgeglittene Hornbrille an seinen Zielort. Alle drei Minuten.
Der Bär zieht mit wackelndem Kopf seine Runden, vollführt auf der linken Tatze eine volle Drehung und vegetiert weiter.
Der ganze Zoo tickt nicht richtig.
Und Sie, liebe Leser?
Haben auch Sie einen Tick? In der Schule erworben?

Er quert die Straße und sticht durch seinen aufrechten Gang ins Auge: Selbstbewusstsein! Im dreigestreiften Trainingsanzug.
Ich bremse den Landrover (ach wie gern hätte ich einen) auf Schrittgeschwindigkeit herunter, wegen Rotlicht und weil ich auch für Tiere bremse.
Mittellanges, geföhntes Blondhaar fällt wallend auf seine breiten Schultern. Eine Spur vom Braun erinnert an den weihnachtlichen Mallorcaurlaub. Ein gepflegter, gekämmter Oberlippenbart unterstreicht seine männliche Erscheinung.
Er schreitet. Würdigt den Verkehr keines Blickes. Ein schöner Mann, eine männliche Tussi, ein trauriges Bild.
Weckt er Eifersucht in mir, fragt die Dame am Nebensitz ohne Worte.
Nein, erwidere ich ungefragt, er macht mir Durst.
"Cola light?"
Irgendeine Flasche.

Manchmal muss man r i c h t i g supplieren.
Wenn der Direktor zu einem Seminar gerufen wird (häufig als Befehlsausgabe von oben!), fühlt sich der vertretende Lehrer verpflichtet, die Klasse w i r k l i c h zu unterrichten.
Ergo frage ich, welches Fach sie eigentlich hätten.
"Geo."
"Und was habt ihr zuletzt besprochen?"
Manche schweigen, andere schlagen verstohlen ihr Heft auf.
"Holz."
"Wer kann mir sagen, warum ihr über Holz geredet habt."
"Das braucht der Tischler."
"Ihr habt also von Rohstoffen und deren Verarbeitung gelernt."
"Genau."
"Kennt ihr noch andere Rohstoffe?"
"Steine."
"Jaaaaa ...."
"Glas."
"Neee, das stellt der Mensch aus anderen Rohstoffen her."
"Plastik!"
"Nein, nein. Das ist auch kein Rohstoff ... Kann mir vielleicht jemand sagen, woraus Plastik hersgestellt wird?"
"Aus Gummi? Da gibt es so Bäume ..."
"Na ja, nicht so schlecht, da gibt es Naturgummi. Aber Plastik wird aus einem anderen, ganz wichtigen Rohstoff hergestellt."
"Aus Holz?"
Hm. Hat das der Direktor so erklärt?
Ich zweifle. Es gibt Gründe, w i r k l i c h r i c h t i g zu unterrichten. Auch wenn Supplierstunden unbezahlt bleiben.

Zwei große, blaue Nullen stehen vor dem Schulgebäude und verteilen Werbezettel.
Aus Erfahrung werben zwei Branchen besonders intensiv vor den Schulen:
1. Nachhilfesinstitute
(Deren große Zeit kommt erst mit dem Spätfrühling, also der Vorzeugnissaison)
2. Handyfirmen
(Diese machen mit der Geschäftsunfähigkeit der Minderjährigen Mörder viel Kohle. Schuldenfalle inklusive)

Die junge Kundschaft greift interessiert zu und wirft zunächst
1. einen Blick auf den stahlblauen Flyer
und drei Sekunden danach
2. den Zettel auf den Stiegenaufgang

Es liegen schon zwanzig davon herum, da gehen alle anerzogenen Hemmungen verloren. Müll wirkt magnetisch: Wo Müll liegt, kommt neuer Müll dazu. Bis die Gangaufsicht auftaucht und den nächstbesten Abfallproduzenten zur Verantwortung zieht:
"Leo! Schlecht gelaufen. Vor meinen Augen schmeisst du kein Papier auf die Stufen. Aufheben."
Leo bückt sich und will weitergehen.
"ALLE!"
Blöd gelaufen.
"Und Andy hilft ihm dabei."
Andy hatte es lustig gefunden, seinen Flyer provokant so zu entsorgen, dass Leo mehr Arbeit hat. Jetzt hat er nur halb so viel. Geteilte Demut.
Vor der Türe teilen die blauen Nullen weiter Prospekte aus, dahinter sammeln zwei Schüler den weggeworfenen Papiermüll auf.
Marktwirtschaft und Pädagogik. Harte Arbeit.

Die US-Army passt sich der Zeit an und senkt ihre Ansprüche. Muss sie wohl, sonst würde mehr als ein Drittel der männlichen Rekruten wegen Fettleibigkeit untauglich geschrieben werden.
Senken wir die Latte.
Das Problem Übergewicht sieht man am Körper hängen, die geistige Verfettung leider nicht.
Wir fressen viel, ungesund und unbedacht. Der Körper speichert.
Wir schauen fern, hören Radio und lesen Junk. Das Gehirn speichert.
Es wird noch Jahre dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass das permanente Infotainment genauso desaströs wirkt wie der unkontrollierte Fett-Zucker-Kalorien-Wahnsinn.
"Ich bin euer Gehirntrainer", so will ich mich in der nächsten Anfängerklasse präsentieren. Gehirnjogging, Gangliensport, Geistesgymnastik - die Zukunft liegt mir vor den Augen - wird nicht reichen, die Folgen von Teletubbies, Internet und Bildzeitung aufzuwiegen: Mediendiät ist angesagt, verkündige ich per Computerblog.
Man muss ja mit der Zeit gehen und die Waffen der Feinde nutzen.
P.S.: Natürlich senken wir auch in der Schule die Latte. Seit Jahren! Sonst müsste mehr als ein Drittel untauglich geschrieben werden.

"Wissen's was, wir sagen: Indien!"
"O.K. ... Warum gerade Indien?"
"Wissen Sie das nicht?"
"Also erzähl."
"Gut, der Herr Professor F. hat uns gleich in der ersten Stunde aufgefordert, rechtzeitig die Bremse zu ziehen. Wenn er uns fadisiert, dann sagen wir einfach ..."
"Indien."
"Indien!"
Die Stunde war zu Ende und ich wusste Bescheid.

Der Halo-Effekt.
Der Halo-Effekt am Lehrer-Beispiel.
Halo-Effekt und Wirtschaft.

Meinen privaten Halo-Effekt erfahre ich am konkretesten hier - im anonymen Lehrer-Blog. Aber nicht nur.

In jedem Dicken steckt ein Schlanker, verspricht die Werbung. In jedem Lehrer ein Mensch, meist Frau oder Mann, vermute ich. Eine ganze Persönlichkeit, die häufig radikal auf ihren Beruf reduziert wird. Als Mensch ausgelöscht, als Mann kastriert. Der Beruf, sobald ich ihn erwähne, überstrahlt den Rest meines Daseins.

Der Halo-Effekt wirkt wie der Lichtkranz eines leuchtenden Himmelskörpers in alle Richtungen, nach vorne und hinten, nach oben und unten, ins Positive und Negative.

Bei einer Vernissage schildert eine junge südamerikanische Künstlerin ihre katholische Hemmschwelle beim Aktmalen. Dem Lehrer erzählt sie zwanglos, dass sie weibliche Körper unbeschwert betrachten kann. Der Lehrer steht über solch banalen Geschlechtlichkeiten, der Mann in mir malt sich allerhand aus.

Eine Mutter erzählt offen in der Sprechstunde, was sie nach der heimlichen Lektüre des Tagebuchs ihrer hyperaktiven Tochter vermutet: Sexuelle Schrankenlosigkeit. Der Klassenvorstand berät und beruhigt, der Mann fantasiert.

Eine Kollegin berichtet aus dem Sauna-Alltag ihres Frauen-Stammtisches. Wer, wo, was, wie. Der Psychotherapeut hört aktiv hin, der Mann dahinter denkt sich seinen Teil.

Der Lehrer leugnet Überforderungen, der Mann schreibt sie in den Blog.

Kennen Sie den Unterschied zwischen "Bemerkung" und "Anmerkung"?
Ich lasse mich hier auf keine Haarspaltereien ein und verzichte auf lexikalische Definitionen, ich gebe ein Beispiel:
"Huber schießt mit dem nassen Schwamm auf Mitschüler", ist eine Bemerkung. Das haben wir früher als "Klassenbucheintragung" gefürchtet, das verleitet heute höchstens zu mitleidigem Lächeln. Die Schwämme sind schon immer geflogen, die Freude darüber hält sich zeitlos in Grenzen. Der Unterschied: Heute regt das keinen mehr auf (vom nassen Ziel abgesehen).

Während Bemerkungen im Klassenbuch neben der Rubkrik "Abwesende" täglich zur Verfügung stehen, gibt es eine einzige Zeile "Anmerkungen" pro Woche, direkt unter den nominierten Klassenordnern. Dort finde ich erstmalig und völlig überraschend eine Mitteilung ans Nirvana: "Ich gratuliere Seji zu seinen ersten Rängen im Hallenbad."
Gleitet über die Zunge.
Ich grüble.
Muss wohl ein Sportlehrer zur Feder gegriffen haben. Sportstudenten verfolgt der Ruf, nicht die Intelligenz für sich gepachtet zu haben, Sportlehrer sind etwas älter. Die unscharfe Formulierung der Eintragung lässt Interpretationsspielraum, allein deswegen, weil kein Seji in der Namensliste der Klasse aufscheint.
Ich forsche weiter.
Begeisterter Dedektiv vermutet, dass ein Schüler (eine Schülerin?) namens Heijisimo S. furchtbar schnelle Runden bei einem Schwimmwettkampf gezogen hatte und der Stolz des Turnlehrers in schwarze Tinte gegossen wurde.

Ich gratuliere zum ersten Platz in Anmerkungen!

Die letzten Wochen umweht das Raucherzimmer ein Hauch von Wehmut.
In der kalten Atmosphäre liegt lila Wolle auf einem Resopaltisch. Eine Kollegin denkt voraus, sie kauft nicht mehr in der Trafik, sie geht ins Wollgeschäft.
"Ich gebe zu, dass es eine Sucht ist. Aber wer wird denn das Rauchverbot büßen?"
"Ich nicht", sage ich.
"Na wer? ....... Die Schüler!"
Ich wundere mich, bei uns gibt es seit Jahren kein Raucherzimmer für Schüler. Sie rauchen nicht einmal mehr auf den Toiletten, das Rauchen hat seinen Reiz verloren, begehrt nicht gegen Verbote auf, es gehört zum Alltag: Zonen mit Rauchverbot akzeptieren sie wie Ausweiskontrollen vor Diskotheken.
Die wenigen Lehrer, die in den Pausen im Raucherzimmer zur Nikotinversorgung versinken, stehen vor einem Problem. Dem Direktor entkam unvorsichtigerweise ein hartes Wort bei seiner Aufklärungsaktion: "Suspendierung" für unbelehrbare Nikotinrebellen.
"Echt?"
"Angeblich kann er bis zur Suspendierung eines Kollegen gehen, wenn dieser im Schulgebäude zum Glimmstengel greift."
Da schießt er mit Kanonen auf Spatzen.
Raucher sind keine Gewalttäter, keine Vergewaltiger, keine Unmenschen. Schlechtestensfalls Suchtkranke!
"Ich brauche den Putsch, sonst werde ich unleidlich", droht eine Raucherin.
"Geh in die Apotheke", schlage ich vor, "die haben da was."
Die Nachbarin greift zu den Stricknadeln.

 

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