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cotopaxi

 
"Suchen Sie sich eine konservative Schule!"

Der junge Kollege (so nennen wir auch die Lehramtsstudenten) hat mich nach den Hospitationen zur Seite genommen und ein ernsthaftes Gesicht ausgewählt: Es gefiele ihm gut, wie ich mit den Schülern zurecht käme, er hätte da schlimme Dinge gehört und in anderen Schulen auch gesehen und er könne sich gut vorstellen, wie ich zu arbeiten. Wenn es ginge....

Ich höre seine Zweifel, seine Ängste, seinen Kummer hinter seinen Worten. Er möchte schon probieren, was die akademischen Didaktiker fordern, er interessiere sich schon für moderne Sozialformen und alternative Unterrichtsmethoden. Wenn es ginge ...

"Ja! Wenn Sie modern unterrichten wollen, schülerzentriert und kommunikativ, dann suchen Sie sich eine konservative Schule. Eine mit Zucht und Ordnung, mit Hausschuhpflicht, mit Hefteinbänden und Kindern, die zum Grüßen aufstehen und still halten!"
" ... schon sehr altmodisch."
"Genau. Aber dort, wo sie nicht alle Kraft für Disziplin aufwenden müssen - weil sie selbstverständlich da ist, dort, wo sich die Kinder nett und problemlos benehmen - weil sie es (gut erzogen) gewohnt sind, da können sie sorglos experimentieren, da können Sie den Kleinen viel Freiraum lassen, da können Sie auch von den Eltern mehr Unterstützung erwarten, da geht alles leichter und besser."

"Seltsam ... eine konservative Schule für progressive Methoden?"
Nur ein Tipp.
Nielsson meinte am 12. Dez, 15:03:
Ham Sie den Tipp tatsächlich so ausgesprochen? 
teacher antwortete am 12. Dez, 15:06:
Nicht in dieser vereinfachten, generalisierten Form. Aber doch! 
gulogulo meinte am 12. Dez, 16:27:
die beschreibung der konservativen schule erinnert mich sehr an meine gymzeit. ok, das war eine private klosterschule. ;-)
wenn es politisch gewollt wäre - das geld dafür wäre sicher aufzutreiben -, sollte es dort wirklich spezielle "erzieher" geben, die sich um die sozialisierung kümmern, damit die lehrer zeit für die wissensvermittlung haben. 
teacher antwortete am 13. Dez, 08:15:
Als Fachlehrer würde mir diese Trennung: Wissensvermittlung - Erziehung gut gefallen. Als Pädagoge halte ich wenig davon.
In Frankreich ist es z.B. üblich, dass undisziplinierte Schüler von schulinternen Fachkräften gemaßregelt werden, der Lehrer kann sich auf seinen Job konzentrieren und die Klasse ist nicht ständig vom Lernen abgelenkt.
Bei uns geht immer mehr Zeit im Unterricht mit (für die Mehrheit) sinnlosen Standpauken verloren: 2 Schüler raufen, streiten, spucken - 30 werden belehrt. Vergeudung von Zeit = Pisa-Katastrophe. 
Nachtblau antwortete am 13. Dez, 08:48:
Naja, ich seh mich als Lehrer als Wissensvermittler, ich will den Kindern beibringen wie man schreibt, rechnet, liest, etc. Was ich schlimm finde, ist, dass nach jeder Pause erst einmal mindestens eine Viertelstunde mit Sachen wie "Der hat mich gehauen, die haben uns geärgert, der war böse zu mir" draufgeht (zusätzlich zu dem, dass man nicht schwätzen, im Unterricht herumlaufen soll, etc). Und da ist wieder der Fehler der Schule: anstatt die Eltern mal ins Gericht zu nehmen dass sie ihre Kinder gefälligst halbwegs sozialisieren sollen kümmert man sich drum und überlegt, wie man das den Kindern denn ganz toll nahebringen kann, nett zu sein. Die Eltern freuts, die sind wieder aus dem Schneider. Mich als Lehrer freuts nicht, weil mir diese Zeit dann fehlt, zB Rechtschreibung zu üben, was man halt dann leider merkt. 
teacher antwortete am 13. Dez, 09:15:
Nun müssen wir aber mit den Realitäten leben. Mehr und mehr Eltern haben weder Zeit, noch Kraft, noch Lust, noch Kompetenz ... ihre Sprößlinge zu erziehen. Kurz, sie erwarten, dass die Schule diesen Job macht.
Dabei sind wir aber völlig überfordert, weil wir selbst unsere Ziele wo anders sehen: Wissen, Kompetenzen, Studierfähigkeit, ...
Und weil wir unsere Schüler 2 -3 Stunden pro Woche sehen. Und über keine Erziehungsmittel verfügen. Und uns in keiner Weise absprechen, Kompetenzen aufteilen etc.
Diese klaffende Lücke nützen etliche Kinder und tanzen den Lehren und Eltern (und der ganzen übrigen Gesellschaft) auf der Nase herum.
Witzigerweise leiden die ordentlichen Mitschüler am meisten darunter, weil sie beschimpft, gemobbt, bestohlen, verprügelt ... werden. Die Lehrer etablieren zunächst eigene Schutzmaßnahmen, damit sie nicht persönlich unter die Räder kommen, erst in siebzehnter Linie kümmern sie sich um Erziehung. 
Nachtblau antwortete am 13. Dez, 09:20:
Naja, in der Grundschule sieht man "die lieben Kleinen" schon jeden Tag, das macht das Ganze aber auch nicht einfacher, wenn die sich nach einem halben Jahr immer noch aufführen wie Sau schürt das glaub ich noch viel mehr den Frust. Und ja, es ist ungerecht den normalen Schülern gegenüber, dass man ständig Zeit mit den Störern verplempern muss. Wenn das nicht so schwer wäre, müsste man die eigentlich nur ignorieren 
teacher antwortete am 13. Dez, 09:28:
Ignorieren geht oft nicht.
Wir haben ja das moderne Prinzip: "Störungen haben Vorrang!"
Macht mich nicht glücklich. 
Sabine (Gast) antwortete am 13. Dez, 09:30:
ähnliche Erfahrungen
machen Eltern, SchülerInnen und Lehrer/Professoren wohl an allen Schulen. Wenn ich das Problem aus Elternseite betrachte: es ist als Elternteil einfach schwierig, das Verhalten der Kinder in der Schule zu kontrollieren. Ich stehe nicht neben meinem Kind und kann deswegen schwer Einfluss auf das Verhalten nehmen.

Da können die Eltern zu Hause ewig reden oder gar drohen, solange die Kinder wissen, dass längst nicht alles zu ihren Eltern durchsickert, wird sich nicht viel verändern. Viele Kinder handeln auch wegen dem Gruppenzwang auf eine Art und Weise, die Eltern sich nicht träumen lassen würden.

Einigermassen besser läuft alles zumeist nach einem Elternabend, wo die Eltern aus erster Hand (den Lehrern/Professoren) über die Probleme informiert werden und dann alle gleichzeitig auf die Kinder einwirken. Wenn alle am selben Strang ziehen, könnte es Verbesserungen geben.

Allerdings: I know - das ist Utopie. Es kann nicht ständig auch noch mit den Eltern Kontakt gehalten werden. Es gibt viele Eltern, die tatsächlich nix wissen wollen.

Da bleibt zu hoffen, dass die Politik auch mal eingreift: niedrigere Klassenschülerzahlen und mehr Lehrer/Professoren wären eine Erleichterung für ALLE Beteiligten.

Als IdealistIn hoffe ich natürlich darauf. Und die Hoffnung stirbt zuletzt! 
teacher antwortete am 13. Dez, 14:02:
Momentan schieben sich Eltern und Lehrer die Verantwortung gegenseitig zu, dabei sind sie beide Verlierer eines gnadenlosen Wirtschaftssystems: Wo beide Elternteile ganztags arbeiten müssen, bleibt die Familie (+ Erziehung) auf der Strecke. Das trifft letztlich uns alle. Stress, Depression, Burnout, Überforderung, Gewalt ... Zivilisationskrankheiten, die wir mit schwer verdientem Geld erkaufen.
Ich wiederhole: Wie kaufen diese Probleme!!! Weil wir sie verdienen!!! (Bin ich heute wieder zweideutig!) 
Stefan (Gast) antwortete am 13. Dez, 22:06:
Den Zusammenhang "arbeitende Eltern" -> "schlechte erziehung" kann ich mit meinen bisherigen erfahrungen in verschiedenen schulen und dabei auch sozialen schichten nicht (!) bestätigen. würde sogar eher noch das gegenteil behaupten.... zumindest dann, wenn eltern gerne arbeiten.

problematisch wird es allerdings oftmals für alleinerziehende eltern, hier zeigen sehr schnell überforderungstendenzen. 
teacher antwortete am 14. Dez, 07:58:
Ich habe das global betrachtet, so individuell gesehen muss ich diese Bedenken ernsthaft in mein Kalkül aufnehmen. 
Azana (Gast) antwortete am 22. Dez, 21:30:
Ob die Erziehung der Kinder bei beruftstätigen Eltern auf der Strecke bleibt oder nicht, ist meiner meinung nach von verschiedenen Faktoren abhängig.
Ein Faktor ist Art und Umfang der Arbeitstätigkeit, weitere sind die Anzahl der Kinder, die Bildung und Einkommen der Eltern, die Arbeitszufriedenheit u.s.w.
Ob zwei Erwachsene mit 3 Kindern einer recht eintönigen und ungeliebten Beschäftigung in der unteren Einkommensgruppe nachgehen, wird sich völlig anders auf deren Erziehungsverhalten auswirken als die Teilzeits- Berufstätigkeit von Akademikern oder Selbstständigen mit 1 oder 2 Kindern, deren Arbeitszeiten sich im günstigsten Fall familienfreundlich individualisieren lässt.

Insgesamt stimme ich jedoch zu: Erziehung scheint für Eltern ein zunehmend schwieriger werdendes Geschäft zu sein, das obendrein gesellschaftlich kaum Anerkennung erfährt. 
 

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