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cotopaxi

 
In der Schnellbahn singt ein Handy. Ein Mann in bester Morgenlaune, stramm, fit, um die dreißig, zückt ein glänzend schwarzes Telefon und meldet sich mit einem selbstbewussten: "Yoo!"

Ich hasse die handyfonierende Öffentlichkeit. Ich will in Ruhe die grauen Häuser und die grünen Wiesen vorbeiflitzen sehen, vor allem will ich Ruhe. Mir reicht der suboptimale Geruchsvorhang um mich herum, mir reicht das penetrante Quietschen der Eisenräder unter mir, die marode Atmosphäre öffentlicher Verkehrsmittel spendet wenig Lebensfreude. Ich brauche keine Einkaufstipps via Telefon, keine medizinischen Ratschläge entfernter Schwiegermütter und auch keine Flirtnachhilfe über pubertierende Miniröcke.

Ende der Erregung (Bitte um Nachsicht).

Der Mann hebt also ab und beginnt zu jammern. Bald weiß der ganze Waggon, der ungewöhnlich interessiert zuhört, was den Herrn Kollegen bedrückt.
Er kommt vom flachen Land, der Dialekt hat ihn bald verraten, und fährt ins nächst gelegene Schulzentrum zur Arbeit. Im Nu liegt sein erzählter Frust wie eine Nebeldecke über der frühen Fahrgemeinschaft.

Er kann nicht mehr, die Hauptschüler sind unerträglich geworden.
"Das druck I nimma durch."
Nein, zurück ins Dorf, das geht auch nicht, wie soll er das seiner Familie erklären. Die meint ihn ja in einer guten, unkündbaren Anstellung in der barocken Landeshauptstadt.

Mit mir steigen zwei Damen aus, die ihr Mitgefühl mit dem "feschen Mann" nicht zurückhalten können. Sie verstehen seine Verzweiflung mit der "heutigen Jugend".
"Man liest es ja täglich in den Zeitungen, Drogen, Gewalt ... siehst eh."
"Armer Mensch."

Mir kommen die Tränen. Wenn ich an die Gesamtschule denke, wird mich das selbe Schicksal ereilen.
Am liebsten würd' ich ihn engagieren, den smarten "Landlehrer". Zum permanenten Telefonieren in allen öffentlichen Verkehrsmitteln der näheren Umgebung. Über kurz oder lang hätten wir die halbe Welt auf unserer Seite.
Mitleid mit den Lehrern. Das täte schon gut.

Soweit mein Vorschlag zur Guerillawerbung in eigener Sache.
.peter meinte am 5. Mai, 02:32:
Bei uns an der Uni gelten diejenigen, die für L2 (Haupt- und Realschule) studieren, ja gemeinhin als die typischen Frontschweine. Und irgendwie stimmt das auch. Man kennt fast alle, die L2 studieren, sind nämlich nicht viele (ein paar Dutzend, verglichen mit mehreren Tausend Grundschule und Gymnasium), und das Klischee stimmt ... irgendwie.

Wenn man natürlich eher dünnhäutig veranlagt ist bei L2 ... naja ... hier schließt sich der Kreis zum Kollegen in der Strassenbahn. 
teacher antwortete am 5. Mai, 11:07:
Schaut in Österreich ähnlich aus. Bloß war bisher die Ausbildung völlig getrennt: Volks- und Hauptschullehrer studieren auf den Pädagogischen Akademien (jetzt: Päd. Hochshulen), die Gymnasiallehrer kommen von den Unis. Es gibt noch keine klare Vorstellung, wie das weiter gehen soll, z.B. für einer Gesamtschule ("Schule der Vielfalt"). 
Milan (Gast) meinte am 5. Mai, 05:05:
Ich wollte nur mal generell zum Blog sagen das dieser mir sehr gut gefaellt!

Seit meinem Auslandsaufenthalt in der 11. Klasse in den USA habe ich mich recht intensiv mit Schule bzw den Themengebieten die das ganze umfasst befasst und finde es somit sehr interessant mal aus der Perspektive eines Lehrers ueber den Schulalltag zu erfahren!
Derzeit leiste ich meinen Zivildienst im Ausland (Paraguay) ab und werde dann wohl bald sehen was ich studiere aber obwohl ich wohl nicht auf Lehramt studieren werde so werde ich mich weiter mit dem Thema befassen.
Vielen dank fuer die Einblicke in die Schulwelt aus sicht eines Lehrers. Weiter so!

Milan


Nur so am Rande: Ich habe das komplette Blog bis Februar 2004 in den letzten Tagen durchgelesen :-) 
teacher antwortete am 5. Mai, 11:04:
Danke, freut mich.
A propos Paraguay - ich bin mal 2 Wochen durch Paraguay gefahren, deutsche und österr. Siedlungen besuchen. Wie gehts?
Ich erinnere mich gerne zurück! 
Milan (Gast) antwortete am 6. Mai, 00:22:
mir gehts super hier! Leben in der Hauptstadt Asuncion.

Wo denn genau? Ich werde demnaechst zur Colonia Independencia fahren bei Villarrica in der naehe. 
PeZwo meinte am 5. Mai, 07:21:
Ich werde den Eindruck nicht los, als ob die Aussicht auf die bevorstehende Gesamtschule die Lehrerschaft nicht wirklich glücklich macht.

Zuerst 10 Jahre Gehrer und jetzt das. Vom Regen in die Traufe.... oder? 
teacher antwortete am 5. Mai, 11:19:
Die Angst (!) ist groß. AHS-Lehrer sehen sich als Wissensvermittler, wollen auf Matura + Studium vorbereiten, wissen mit den Problemen der städtischen Hauptschulen (Gewalt, Ausländer, Arbeitsverweigerer, Desinteresse ... was man so hört) nicht umzugehen.
Vergleich: Schicken Sie einen Leprakranken zur Kosmetikerin!

Politisch ist es klar. Die "roten" Großstädte wollen ihr Hauptschulproblem (Landessache!) in die Verantwortung des Bundes (alle Gymnasien) entsorgen. Die Hauptschulen wurden in den Großstädten ruiniert, jetzt sollen die Gymnasien das Problem lösen. Die rote Regierung macht das jetzt möglich.
Wir haben aber keine Ahnung, weder von den Problemen noch von deren Lösung. Und wir fürchten, dass auch die Politiker und die Bildungsforscher von der Realität in den städt. Hauptschulen kein realistisches Bild haben. Die reden, verlangen, versprechen - wir aber müssen diese Suppe auslöfflen (und zwar mit Messer und Gabel!) 
Stef (Gast) antwortete am 5. Mai, 13:06:
Bitte informiert mich... Gibt es in Österreich bald nur noch _eine_ Schule für alle ?! Dann wären wir Deutschen ja die letzten Europäer mit ihren sooo geliebten Resteschulen (gerne auch Schule für Dumme genannt - Eltern-, und Schülerdenke)!

Wenn ich von der Angst der Gymnasiallehrer lese, tobt es in mir. Ist natürlich schön, wenn vorher der gesellschaftliche Bodensatz rausgeprüft wurde. Sollen sich doch die Idealisten um die Chaoten kümmern (und dafür auch nopch wenig Gehalt einstecken). Dass die Primarstufe schon seit Jahren vorlebt, wie gute von schwachen und schwache von guten Schülern profitieren können, wird dabei gern übersehen.

Es wird sicher nicht einfach, gerade wenn jegliche Einsicht fehlt.

Hier im gutsituierten Ort erlebe ich es bei konservativen Eltern: das dreigliedrige Schulsystem predigen, aber wenn der eigene Bub keine Gymnasialempfehlung erreicht, werden plötzlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern: Nachhilfe, Lehrerschelte, Anwälte, Gesamtschulen (!), Privatschulen, etc. (also alles nur Heuchelei!) 
.peter antwortete am 5. Mai, 15:22:
Ruhig Stef *Zuckergeb* ;)

Lehrer sind grundsätzlich gegen jede Veränderung, dass darf man nicht überbewerten. Lehrer sind so ziemlich das reformfeindlichste Völkchen auf Gottes deutschsprachigen Erdteilen.

In Dtl. zum Beispiel würden die meisten Lehrer sagen, weil rot wie Sau, dass Gesamtschulen im Grunde der richtige Weg sind. Wenn sie aber mal eingeführt werden, will da keiner Unterrichten.

Siehe auch meinen Kommentar oben: Haupt- und Realschule machen nur wenige.

Aber es gibt ja auch Licht am Ende des Tunnels: Eine ordentlich integrierte Gesamtschule mit ausdifferenziertem Kurssystem ist natürlich und völlig unwidersprechbar förderlicher für ALLE, und in seiner Möglichkeit zur Spezialisierung zwischen 10. und 12.Klasse und auch schon davor nicht nur den Möglichkeiten des Abiturs ebenbürtig, sondern wegen seiner internen Chancengleichheit dem 3-gliedrigem Schulsystem in Fairness und Anzahl hochwertigerer Abschlüsse überlegen.

Nicht alle kriegen damit Abi oder vergleichbares, aber auf jeden Fall mehr als vorher, da mehr Chancen bestehen als vorher. Das Allheilmittel ist es aber auch nicht. Struktur, Ausdifferenzierung, und Auffangsystem für schwächere Mitschüler sind Grundvorraussetzung für einen zukünftigen Spitzenplatz bei PISA, egal ob 3-gliedrig oder Gesamtschule. Oder anders: Ein Bildungssystem auf dem Abstellgleis ist mit einem Wagonwechsel allein auch nicht geholfen. 
teacher antwortete am 5. Mai, 16:11:
@Stef.:
Ja, in Öst. ist die Diskussion um eine Art Gesamtschule mit dem Wahlsieg der Sozialdemokraten voll ausgebrochen. Der konservative Koalitionspartner ÖVP zeigt sich nicht mehr so strikt dagegen wie bisher, die SPÖ nutzt die Gunst der Stunde.
Zur Angst der Lehrer:
Man kann sie auch einfach übergehen und "Selbst Schuld" sagen. Ich nehme sie lieber ernst. Die Gymnasiallehrer haben eine gute fachwissenschaftliche Ausbildung an den Unis bekommen und sollen zukünftig mit wenig Know-how pädagogische Sozialarbeit leisten, das entspricht einem völlig neuen Arbeitsplatz, den sie übernehmen sollen. Da braucht es Umschulung, Motivation etc., sonst wird der latente Widerstand zum Grab der Gesamtschule.
P.S.: So toll bewährt hat sie sich in D, Frankr., England ... nicht, dass man sie kritiklos übernehmen muss. Im Gegenteil! 
Simon Columbus (Gast) antwortete am 5. Mai, 16:28:
So toll bewährt sich die Gesamtschule nicht?

Nun, das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland streicht auf jeden Fall mehr (internationale) Kritik ein. Und die Tatsache, dass beinahe alle Industriestaaten Gesamtschulen haben - und gerade Deutschland (Österreich weiß ich nicht) in nationalen und internationalen Studien schlechte Ergebnisse erzielt (ich meine nicht nur PISA) - sollte einen doch stutzen lassen.

Ich bin - da Waldorfschüler - an einer "Gesamtschule". Natürlich haben wir den "gesellschaftlichen Bodensatz" nich in unseren Klassen - denn der weiß von unserer Schule nichts - aber doch einen weiten Querschnitt, was die Talente der Schüler angeht. Und ich sehe es positiv, Menschen nicht allein anhand ihrer Deutsch-, Englisch-, Mathe-Noten in Kisten zu stecken. Zumal dieses System in Deutschland enorm schief läuft.

Zum Beispiel nehmen ausgerechnet Gymnasiasten am häufigsten Nachhilfe-Unterricht... Und auch meine Erfahrungen mit von staatlichen Schulen gekommenen Mitschülern zeigen, dass die nach der vierten Klasse getroffenen Entscheidungen über die Zukunft eines Menschen in großen Teilen bestimmen können - aber häufig nicht treffen. Das liegt daran, dass nur von oben nach unten durchgereicht wird - eine katastrophale Fehlwirkung des Systems. 
teacher antwortete am 5. Mai, 16:50:
@Simon C.:
Das Thema Gesamtschule wäre einen eigenen Blog wert - mir aber nicht. Ich glaube, dass wir weit gravierendere Probleme in der Schule haben, die sich nicht mit einem oberflächlichen Systemwechsel lösen lassen. Mit der Fusion von Hauptschule und Gymnasium werden die PISA-Ergebnisse nicht besser werden, da müssen andere Anstrengungen gemacht werden (auch bei den Schülern und den erziehenden Eltern).
I.Ü. bin ich kein exponierter Gesamtschulgegner, ich kenne auch deren Vorteile, und will mich hier nicht zum Verteidiger der "bunten Schule" (Gegenwerbung zur "Zwangsschule") machen. 
Stef (Gast) antwortete am 5. Mai, 17:06:
Völlig klar. Veränderungen werden sehr sehr lange dauern. Erfolge eines möglichen Systemwechsel werden klein oder zunächst gar nicht ersichtlich sein. Dies hat mit Sicherheit auch mit den Ängsten und Denkrichtungen von uns Lehrern zu tun.

Aus Sicht eines Gymnasiallehrers würde ich natürlich nichts ändern wollen ... es gäbe zig gute Gründe. Als Lehrer an der Primarstufe erlebe ich aber jährlich mit, was da im letzten Grundschuljahr mit Schülern (Kindern !) und Eltern passiert. Die Gesamtschule, wie sie jetzt existiert ist m.E. ganz sicher keine ideale Lösung, aber nach meinen bisherigen Erfahrungen (z.B. 9 jährige, die nach einer schwachen Mathematikarbeit verzweifeln - echte Angstzustände durchleben) ist alles besser, was die Kinder davor bewahrt, bereits mit 10 Jahren in Schubladen aufgeteilt zu werden. Es mag sogar sein, dass ein dreigliedriges Schulsystem unter idealen Bedingungen effektiver arbeiten kann ... diese Bedingungen gibt es aber schon seit Jahren nicht mehr und wird es auch nie wieder geben. 
teacher antwortete am 5. Mai, 17:32:
Das ist interessant, weil die Sicht der Grundschullehrer zum Thema bisher kaum mediale Beachtung findet! 
 

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