Trithemius meinte am 20. Mai, 23:09:
Zur Zeit lese ich Ivan Illich: "Entschulung der Gesellschaft" und kann danach gar nichts Tröstliches sagen, denn der Fehler steckt im System. Die Pflichtschule kann man kaum besser machen, allenfalls ein bisschen daran herumdoktern. Ich bin Lehrer am Gymnasium gewesen, mit vielen Idealen in den Beruf gegangen und rechtzeitig wieder raus, bevor ich zum zynischen Unterrichtsbeamten degeneriert bin. Man muss sich doch wundern, wie es die Schule schafft, aus neugierigen jungen Menschen, die lernen wollen, stumpfe Leistungsverweigerer zu machen oder solche, die geschickt nachbeten, was der Lehrer von ihnen hören will. Jedenfalls ist Schule für die meisten Schüler etwas, was gar nicht viel mit dem Leben zu tu hat, und das Lernen auf Vorrat empfinden viele zu Recht als vertane Zeit, denn es geht ja eigentlich nur darum, junge Menschen für eine gewisse Zeit zu kasernieren mit dem Ziel, Lebenschancen zu verteilen. Schülerinen und Schüler spüren das. Wenn Referendare mit viel Enthusiasmus an die Schule kommen, dann können sie sich noch so mühen, der Heimliche Lehrplan der Schule macht es zunichte. Es ist schon bedrückend, wie Schule Kritikaster hervorbringt, aber was anders sollen denn Kinder lernen, wenn sie auch ständig nur gemessen und kritisiert, über Noten abgeurteilt werden.
Maik Riecken (Gast) antwortete am 21. Mai, 07:12:
"denn der Fehler steckt im System"Wenn du Pech hast, besteht genau dieses System nicht nur aus "Schule", sondern aus mehreren Komponenten. Schule wird als Lernort in meinen Augen auch überschätzt.
Wenn da was dran ist und der Rest des Systems auch mit für das Problem verantwortlich ist - und als Lehrer bekomme ich da schon hin und wieder den Eindruck - dann ändert auch die Abschaffung von Schule ("Entschulung der Gesellschaft") allein nichts.
Mit einer Gesellschaft, die auf breiter Basis die Abschaffung von Schule initiiert und ihre Gesamtverantwortung wahrnimmt, hätte ich kein Problem. Ich komme auch so irgendwie klar. Bis wir diese Gesellschaft haben, wird es schwer, den "Systemfehler Schule" zu korrigieren - wahrscheinlich hätten wir dann auch ganz andere Schulen.
teacher antwortete am 21. Mai, 08:22:
Tatsächlich findet bereits eine Art "Entschulung" statt - immer weniger nehmen das System ernst. Die Schule existiert zwar von der Organisation her, aber deren ursprüngliche Aufgabe (Bildung etc.) übernimmt sie immer weniger.
Maik Riecken (Gast) antwortete am 22. Mai, 12:33:
Aus welchen Motiven heraus nehmen "viele" Schule nicht ernst? Dass es so ist, vermag ich nachzuvollziehen. Ich bezweifle entschieden, dass die meisten, die Schule nicht ernst nehmen, das aus einer reflektierten Haltung gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Problemen - Schule ist eines davon - heraus tun - so wie es z.B. im Unschoolingbereich als Haltung anzutreffen ist.
Gruß,
Maik
teacher antwortete am 22. Mai, 16:39:
Die Motive würden mich auch interessieren. Sie finden sich in europäischen Staaten viel stärker als in den USA oder Australien, wo eine lustbetonte Schulkultur entwickelt wurde.
Maik Riecken (Gast) antwortete am 22. Mai, 18:13:
Ähm - also die Kollegin, die gerade aus den USA (Ausstauschprogramm - Highschool) zurückgekehrt ist, hat relativ wenig von "Lustbetonung" erzählt - eher was von Formularen und Dokumentationspflichten. Auch dort gibt es natürlich Inseln (z.B. im ohnehin für die USA sehr untypischen Washington D.C), aber die Regel scheint mir das auch dort nicht zu sein - und schon gar nicht in der gesellschaftlichen Breite. Darüber redet natürlich niemand gerne, hier in den Medien ist lediglich etwas von den pädagogischen Ansätzen und den Kreationisten zu lesen. Ist nicht unser Hauptproblem in Deutschland, dass die Herkunft über den schulischen Erfolg entscheidet?
Schulen, die "lustbetont" arbeiten machen auch die Erfahrung, dass sie nicht mehr funktionieren, wenn sie eine Schülerschaft in der prozentualen Zusammensetzung der Gesellschaft zu betreuen haben - da gab es neulich ein nettes GEO-Spezial zu.
"Lustbetonte Schulen" dürfen in meinen Augen kein Luxusartikel von Leuten werden, die über das monetäre bzw. intellektuelle Kapital verfügen - das - genau das - würde z.B. die Befürworter der Schulpflicht nämlich - dann auch zu Recht - in ihrer Position weiter stärken.
Diese Schulen werden uns nicht geschenkt werden. Damit meine ich: Der Staat wird es nicht richten. Und so lange wir lustbetont Kredite für Autos und iPhone-Verträge aufnehmen, und unsere Kinder dafür in nicht "lustbetonte Schulen" schicken (ein Aufbrechen dieser Struktur wäre erforderlich), wird sich hier gar nichts ändern.