teacher meinte am 10. Apr, 20:33:
BITTE sagt mir nicht, dass es früher auch einflussreiche Medien gegen hat. Keiner ist täglich stundenlang vor einem pornographischen Holzschnitt gesessen, hat sich am Abend 10 zerrissene Leichen angesehen und zum Wochenende 100e Gegner abgeschossen. Unsere "digital natives" sind auch "criminal natives" - und wir schauen weg, weil sich angeblich nichts geändert hat.
kittykoma antwortete am 10. Apr, 20:44:
nein, man ist zu live-hinrichtungen und -folterungen gegangen. ist das schon vergessen? das waren anlässe zu volksfesten, wenn jemand aufs rad geflochten, verbrannt, geköpft oder gehängt wurde. die leichten unterhaltungen waren das öffentliche anpassen des spanischen stiefels oder der pranger.körperliche gewalt beherrschte den öffentlichen raum und die nachrichten darüber wurden per flugblatt, später per zeitung weitergetragen. allerdings gab es kaum pornografie. im gegensatz zu gewalt war sex nichtöffentlich.
edit: nicht zu vergessen die alltägliche gewalt. prügelstrafe zu hause und in der schule. da ist es wesentlich harmloser, stundenlang "gesichter des todes" anzusehen.
das einflußreichste medium war sprache. einfach mal märchen vor der bereinigung durch die brüder grimm lesen. das waren horrorgeschichten und die wurden abends in der peer-group (d.h. beim gemeinsamen arbeiten der mädchen an der aussteuer unter geduldetem beisein der männlcihen dorfjugend) erzählt wurden.
teacher antwortete am 10. Apr, 21:10:
Nein.Solche Spektaktel waren aussergewöhnliche Attraktionen, heutige Mediengewalt ist ständig prägend (= völlig normal) präsent. Und das in schlimmsten Versionen - das hat es nie gegeben.
kittykoma antwortete am 10. Apr, 21:13:
aber das gewalt alltäglich war, läßt sich doch wohl nicht von der hand weisen. ebenso wie gewaltdarstellungen wie z.b. die martyrien in den kirchen. ich halte diesen spruch von der verrohung der jugend für einen uralten allgemeinplatz seit sokrates.
teacher antwortete am 10. Apr, 21:20:
Die Mächtigkeit, die Qualität, die Kraft der heutigen Medien ist mit den alten Darstellungen in keiner Weise vergleichbar.Diese Vorstellung, dass sich seit Sokrates nichts geändert hat, macht mir deswegen Sorgen: Die heutigen Kinder kleben bewegungslos und ferngesteuert vor den Bildschirmen und sind mit den Kindern vor 20 Jahren nicht mehr zu vergleichen (s.o.), das hat sich eine Revolution abgespielt und wir haben sie nicht bemerkt!
kittykoma antwortete am 10. Apr, 21:41:
jedes medium hatte in seinem historischen kontext enorme wirkung. ein fahrender sänger, der in ein dorf kam, dessen bewohner kaum die nächste stadt kannten, und der dort von seeungeheuren und drachen erzählt, hat genau so eine wirkung wie heute die internetfilmchen. es gab ganze landstriche, die sind nach jerusalem aufgebrochen, um den heiland zu rächen. die schilderungen von höllenqualen und märtyrertoden, zusammen mit den bildern in den kerzenbeleuchteten kirchen (nicht vergessen, wir beten eine leiche an, die den foltertod gestorben ist), das hatte enorme wirkung. die größere qualität der heutigen bildlichen darstellungen kann eher ernüchtern, weil die phantasie kaum noch dazwischen kann.ich habe das größere problem, daß heute fast alles nur noch im kopf passiert. die schläge, die angesehen werden, tun nicht weh. die vermeintlich lustigen "unfälle" hinterlassen keine blutenden toten, denn dann wird abgeblendet. jugenliche lernen nicht mehr einzuschätzen, was sie mit ihrer kraft anrichten können bzw. wo sie selbst versagen und verprügelt werden, statt wegzurennen. das sind essentielle erfahrungen, die kaum noch oder angeleitet durch den film im kopf gemacht werden.
und daß sich seit sokrates nichts geändert hat, halte ich für relativ normal. das ist der tierische anteil in menschen. der schwankt, der prägt sich mal hier mal da aus. es gab mal gladiatorenkämpfe, es gab mal duelle auf leben und tod wegen kleinigkeiten. es gibt s-bahn-surfer. es gibt illegale autorennen. ich glaube, es war in mitteleuropa noch nie so gewaltarm und friedlich wie heute (sehen wir jetzt mal von unseren türkischen und arabischen mitbürgern ab, die haben andere haltungen zu gewalt). und wenn männer älter als 23 geworden sind, steht ihnen statistisch nichts mehr in wege, das höchstalter zu erreichen. und wenn sie über die schwelle weg sind, fangen sie an, auf die verrohte jugend zu schimpfen ;)
aber um noch mal auf den ausgangspunkt der diskussion zurückzukommen. warum versucht ihr nicht mal, im unterricht eines der faszinierenden videos nachzudrehen? so was jackass-mäßiges, was sie alle cool finden, einen kampf oder so einen lustigen unfall. spätestens wenn einer deiner schüler mit dem bike gegen die wand fahren soll, wissen die leute, das das nur bescheuert ist, mehr nicht.
teacher antwortete am 10. Apr, 21:55:
In keiner Zeit hat die Jugend so viel (Dummes, Gewaltätiges, Pornografisches ...) über so lange Zeit konsumiert. In keiner Zeit wurden die Kinder von so gewissenlosen Unbeteiligten (über Medien) geprägt wie heute. Da passiert etwas völlig Neues ... und die Wirkungen sind sichtbar. P.S.: Ich mache Videos mit meinen SchülerInnen, wir haben damit auch schon Preise gewonnen.
kittykoma antwortete am 10. Apr, 22:07:
das ist der preis von zivilisation, wohlstand und freiheit. noch nie hat jugend so lange gedauert und war mit so viel freizeit verbunden. noch nie gab es so wenig gesellschaftliche und familiäre kontrolle. wenn familie und bildungsinstitutionen das nicht füllen können und wollen, dann entsteht ein problem.du hast recht. der größte teil der eltern- und großeltern-generation hat den technischen anschluß verloren, die wissen weder noch können sie sich vorstellen, was jugendlichen im internet alles konsumieren können.
das war doch der größte lacher, daß in deutschland minister über die vorratsdatenspeicherung beschlossen haben, die nicht einmal in der lage sind, sich im internet zu bewegen, geschweige denn einen computer zu bedienen.
zum ps. kannst du mir vielleicht einen link schicken? das interessiert mich.
teacher antwortete am 10. Apr, 22:16:
zum P.S.: Wenn Du unter www.netdays.at ins Archiv gehst, findest du zwar nicht die vollständigen Videos, aber du kriegst einen Eindruck. Mehr darf und will ich hier nicht verraten.
kittykoma antwortete am 10. Apr, 22:20:
verstehe ich.
steppenhund antwortete am 11. Apr, 00:16:
Wenn der Spruch von der Verrohung (seit Sokrates) wahr wäre, könnte man gebratene Kinder überhaupt nicht mehr essen, weil man sie so lange am Feuer halten müsste.Also ich stimme hier ganz klar kittykoma zu. Gewalt war immer da - und dazu die "ungerechte Gewalt" durch dreißigjährige Kriege, durch Glaubenskriege. Dazu noch stetige Vernaderung und dazwischen mal eine kleine Hexenjadt.
Und wenn wir die so gemütliche Biedermeierzeit ansehen, war die halt eben von der Angst geprägt, dass hinter jedem ein Spitzel von Metternich stehen konnte.
Gefängnisaufenthalte waren auch nicht so das ganz Wahre.
Es stimmt schon, dass Gewalt in den Videos heute drastischer gezeigt wird. Am besten lässt sich diese Haltung ja im Film über Larry Flint (Herausgeber des Hustlers) sehen, der irgendwann seine Pornografie damit verteidigt, dass sie weniger Schaden als die Kriegsfotografie und - Hetze anrichtet.
Da stimme ich übrigens zu. Man kann zur Not ja auch ein bisschen Wilhelm Reich dazu lesen.
steppenhund antwortete am 11. Apr, 00:27:
Ich bild mir ja schon ein, Internet-literat zu sein, aber auf der www.netdays.at-Seite finde ich nur Filme, die für Wettbewerbe eingereicht sind. Und wenn ich mal von "disconnected" absehe, finde ich Gewalt überhaupt beim ersten Hineinsehen.Aber ich scheue mich ja auch nicht, einen Tarantino-Film anzusehen.
teacher antwortete am 11. Apr, 09:04:
Wer selbst Videos gestaltet (mit oder ohne Gewalt), durchschaut die Mechanismen und ist quasi geimpft vor subtilen Abhängigkeitsmustern.
BIA (Gast) antwortete am 11. Apr, 22:15:
Was wirkt wohl eindringlicher? Einmal am Sonntag ein vergammeltes Märtyrerbild unter einer dicken Schicht von schwärzlicher Patina ansehen oder täglich eine Stunde DIY-Ballern mit hyperrealistischer Bildgrafik? Wer glaubt, dass das denselben Effekt hat, lügt sich in die Tasche.
teacher antwortete am 14. Apr, 09:12:
Mich wundert, dass solche Vergleich trotzdem immer wieder gezogen werden. 3 Stunden Fernsehen, 3 Stunden Radio, stundelang Computer und Videospiele - jeden Tag!!! Das wird dann so verharmlost ...