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cotopaxi

 
steppenhund meinte am 13. Dez, 20:03:
73%
Ich frage mich wirklich, ob Lisa Rosa recht haben könnte. Ein ganzes Dorf braucht es, um ein Kind zu erziehen. Hm, ich könnte mir das sogar vorstellen, wenn die Leute im Dorf die gleichen Wertevorstellungen und sozialen Grundverständnisse haben. Ich frage mich aber, wie das Kind zwischen Recht und Unrecht, zwischen erlaubt und verboten, zwischem guten und schlechtem Benehmen unterscheiden soll, wenn seine Werte von unterschiedlichsten Erwachsenen vorgegeben werden. Du darfst das, meint der eine Erwachsene, genau das darfst Du nicht, sagt der andere. Nach meiner Auffassung benötigt ein Kind unter anderem zwei Dinge beim Aufwachsen. Erstens: Grenzen, wie weit immer die auch gesteckt sein mögen. Zweitens: Nachvollziehbarkeit, wenn diese Grenzen verändert werden. (Was sie zweifelslos werder, wenn das Kind größer wird.) Grenzen sind allein schon zum Selbstschutz des Kindes notwendig, wenn bestimmte Erfahrungen noch nicht erkannt werden können. Sie sind aber auch notwendig, um das Kind sein Territorium abzustecken zu lassen.
Es ist durchaus legitim, dass ein Kind versucht, die Grenzen zu überschreiten. Erst dann kann es seinen eigenen Bereich überschauen. Manchmal werden Grenzen unsichtbar und unhörbar gezogen. Es gab einmal O'Neill, der von antiautoritärer Erziehung gesprochen hat. In Wirklichkeit strahlte er selbst soviel Autorität aus, dass es nicht notwendig war, sie noch zusätzlich besonders mit Regeln und Strafen zu betonen.
Manche Eltern von Schulkollegen meiner Kinder haben die Erziehung der Waldorfschule mit antiautoritärer Erziehung verwechselt. Obwohl das eine vollkommen falsche Auffassung ist, findet man sie doch immer wieder vor, weil kleine Indizien wie textuelle Beurteilung statt Noten darauf hinzuweisen scheinen. Das führt dann dazu, dass sich deren Kinder in der Straßenbahn besonders wild gebärdet haben.
Wenn ich die Bedeutung von Grenzen anerkenne, dann möchte ich auch dafür sorgen, dass diese für das Kind klar und nachvollziehbar sind. Auch eine Großmutter mit dem Spruch: "aber bei mir darf er/sie das schon." tut hier keine guten Dienste.
Nein, Lisa Rosa kann ich auch nach längerer Überlegung nicht recht geben. Außenstehende Personen wie ab und zu einmal besuchte Bekannte sollen sich mit Belehrungen von fremden Kindern zurückhalten. Es herrscht ein Verständnis, dass disziplinierende Eingriffe bei Anwesenheit der Eltern nur von denen vorgenommen werden sollten.
Wie war das bei Familienduell? 100 Leute haben wir gefragt, wie sie reagieren würden, wenn jemand ihre Kinder in ihrem Beisein maßregelten. 73% waren entrüstet. 15% waren erstaunt, 10% fanden nichts dabei, 2% fanden das gut.
Die Zahlen sind erfunden. Ich bekenne aber, zu den 73% zu gehören. Denn wenn jemand mein Kind zurechtweist, fühle ich mich selbst gemaßregelt: warum habe ich mein Kind so schlecht erzogen? 
alexius antwortete am 14. Dez, 09:24:
@steppenhund
Was Sie gesagt haben bezüglich Grenzen setzen und Überschreitung der Selbigen, finde ich absolut nachvollziehbar und berechtigt.

Aber, Sie schreiben:"Außenstehende Personen wie ab und zu einmal besuchte Bekannte sollen sich mit Belehrungen von fremden Kindern zurückhalten." Ja, auch da haben Sie Recht, aber hat Lisa Rosa das gemeint? Dass Fremde das Kind belehren sollen?

Ich habe das so verstanden, dass man auch dem fremden Kind, zeigt wo die e i g e n e n Grenzen sind, nicht wo s e i n e Grenzen sind. (Und natürlich nur dann, wenn man persönlich betroffen ist.)
Und das macht doch durchaus Sinn. Zumindest für mich. Als Beispiel: Ein Kind boxt mich. Die Eltern finden das gut. (Aus welchem Grund auch immer) Ich nicht. Also sage ich zu dem Kind "Stopp, hau mich nicht, weil mir tut das weh, und wenn Du mich nochmal haust, hau ich zurück." Ich sage aber nicht "Stop hau mich nicht, weil das tut man nicht."

Ich glaube aber auch, zumindest ist das meine Erfahrung, dass noch nie jemand ein Kind nach irgendeiner reinen Lehre aufgezogen hat, da der Mensch als soziales Wesen eben immer Kompromisse machen muss, und diese oft gar nicht als solche wahrnimmt. Das kommt meiner Meinung nach auch in dem Spruch "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein KInd zu erziehen" zum Ausdruck. Das, und das es für Menschen sicher am Besten ist, in einer ungefähr wertekonformen, funktionierenden Gemeinschaft aufzuwachsen. 
steppenhund antwortete am 14. Dez, 13:31:
es gibt kaum demilitarisierte Zonen
Grenzen sind dort, wo zwei Interessen aufeinander stoßen. Zeige ich dem Kind meine Grenzen, so zeige ich ihm auch gleichzeitig seine Grenzen.
Mit einer Sprachregelung kann ich mich anfreunden, am Tatbestand, was aufgezeigt wird, ändert sich dadurch meiner Ansicht nach nichts.
-
Was mir sehr gut gefällt, ist das Beispiel mit der Begründung. Ich habe auch gemerkt, dass Kinder überraschend einsichtig sind, wenn sie den Grund für eine Restriktion verstehen können. Dieser Erklärungsbedarf wird leider oft aus Bequemlichkeitsgründen ausgelassen. 
teacher antwortete am 14. Dez, 15:52:
Begründungen sind wirklich essentiell. Gerade wenn man mit großen Gruppen arbeitet, wie das im Lehrberuf üblich ist, fallen sie ständig unter den Tisch (Zeit, Bequemlichkeit, ...). Dann bleiben wesentliche Einsichten aus. Eltern haben hier viele bessere Chancen, sinnvolle Erziehungsarbeit zu leisten! 
Lisa Rosa antwortete am 14. Dez, 16:55:
Belehrung? Beziehung!
Der weise Spruch mit dem Dorf bedeutet ja gerade, daß die Defizite oder sagen wir Begrenztheit, die jeder einzelne Erwachsene für die Erziehung von Kindern hat, durch das vielfältige Angebot an Erwachsenen - übrigens unterschiedlicher Generationen - ausgeglichen wird. (Z.B. ein rigider Vater durch eine freundliche Nachbarin, eine gluckige ängstliche Mutter durch einen selbständigkeitsfördernden jungen Handwerker usw.)
Was die Grenze angeht, so meine ich, es kommt nicht darauf an, das Kind einzugrenzen, sondern daß jeder der mit ihm in Kontakt kommt seine eigenen Grenzen um sich herum zieht. (Übrigens auch das Geheimnis guter Partnerbeziehung! ;-))
Genau wie alexius verstehe ich das unter der Notwendigkeit Grenzen deutlich zu machen! Und dabei geht es nicht um Belehrung, sondern schlicht und einfach um Mitteilung - also Kommunikation. Insofern ist Erziehung m.E. nicht sooooo schrecklich was anderes als einfach gelebte Beziehung. 
teacher antwortete am 14. Dez, 17:12:
Mir gefällt die Dorfmetapher gut, auch, weil sie in der Stadt nicht lebensfähig ist. Leider. 
kittykoma antwortete am 14. Dez, 17:14:
hm klingt alles sehr theoretisch. und was ist, wenn ein kind auf deine form der kommunikation und grenzziehung pfeift? davon können alle, die kinder haben, einen liedchen singen.
ein kind kann für einen erwachsenen auch mental kaum ein partner auf augenhöhe sein. ich habe immer nur erlebt, daß diese ganze empfehlungspädagogik genauso hinkt, wie autoritäre modelle.
wenn man erstmal gesehen hat, wie eine mutter auf dem spielplatz einem dreijährigen minutenlang mit den worten: paul, möchtest du deine jacke anziehen? hinterherrennt, fagt man sich ob ein kurzes und knappes: paul, komm mal her, jacke anziehen! es nicht auch getan hätte. 
teacher antwortete am 14. Dez, 17:20:
Ein kompetenter Psychotherapeut hat uns bei einem Seminar zum Thema "Kommunikation in schwierigen Situationen" erklärt, dass
gleichberechtigte Kommunikation zwischen Kind und Erwachsenen eine unnatürliche Realitätsverweigerung darstellt und er hat nicht verstanden, dass diese Gleichheits-Ideen in der Lehrerausbildung heute noch vertreten werden. 
Lisa Rosa antwortete am 14. Dez, 18:58:
@kittykoma
Naja, ich bin mittlerweile Mitte 50, habe in 20 Lehrerjahren 1000e von Schülern betreut und zwei Jungs alleine großgezogen, die sehr verträgliche Mitmenschen geworden sind. Ich denke, ich spreche auch aus Praxiserfahrung ... die steht übrigens VOR der theoretischen Reflexion. 
kittykoma antwortete am 14. Dez, 19:10:
gut, dann ist da viel praxiserfahrung da.
diese metapher mit dem dorf ist schön. funktioniert nur in unserer individualisierten gesellschft nur noch begrenzt.
mein ding ist die "wenn du vielleicht am unterricht teilnehmen möchtest"-erziehung nicht. ich habe genau deshalb meiner tochter lesen, schreiben und rechnen in den ferien beibringen dürfen.
die lehrerin - eine erfahrene pädagogin, fachberaterin - interessierte sich nur für die kinder der alternativ-intellektuellen eltern, die tatsächlich so ansprechbar waren. alle anderen waren eben "problematisch", "millieugeschädigt", "psychisch belastet".
den weg aufs gymnasium konnte sie erst nach lehrerinnenwechsel nehmen. jemand robust-mütterliches, die autoritär war und sie gefordert hat, lag ihr mehr. 
Lisa Rosa antwortete am 14. Dez, 20:01:
na klar gibt es furchtbar dumme und unfähige Lehrer - genauso wie dumme Mütter und Väter. Drum ist es ja so wichtig, dass ein Kind nicht auf Gedeih und Verderb einer einzigen solchen Person oder einem Paar davon ausgeliefert ist, sondern Alternativen hat. Das Ding mit dem Dorf ist eine Metapher, d.h. das alte Dorf mit seiner bäuerischen Engstirnigkeit wünscht sich ja kein Mensch zurück. Aber die Möglichkeit, dass Kinder in viele verschiedene soziale Kontexte reinkommen, und verschiedene erwachsene Ansprechpartner haben, die sich verantwortlich fühlen - weil sie die Kinder als soziale Zukunft sehen - auch für Kinder, die ihnen nicht "gehören", das ist das "Dorf", oder könnte und müsste es sein. Am ehesten gibt es das tatsächlich inzwischen in der Großstadt, weil da mehr Möglichkeiten sind - vor allem für Jugendliche. Aber es gibt längst nicht genug davon. Am Zusammenspiel zwischen Elternhäusern - auch und gerade der "bildungsfernen" Schichten -, der Jugendhilfe und Kindertagesstätten und Schulen, Sportvereinen, Kirchengemeinden, und so weiter, arbeiten wir hier in Hamburg in einer "runden Tisch-Institution", die sich NaSch nennt: Nachbarschaft und Schule. Funktioniert in zwei Bezirken seit Jahren hervorragend und soll jetzt in allen 15 Bezirken eingerichtet werden. Wenn die Eltern zunehmend mit ihrer Erziehungsaufgabe überfordert sind - wie die vielen Monster-Annekdoten ja zeigen, dann gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder die dummen Eltern beschimpfen - führt zu nix. Oder die öffentliche Erziehungs- und Bildungslandschaft radikal verbessern und ganztägig betreiben, damit sie dieses Defizit ausgleichen kann. Oder wissen Sie noch was anderes? 

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