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cotopaxi

 
Es braucht schon ein Bataillon an Arbeitsrössern, um mich ins Altersheim zu zerren, aber Verwandtenbesuch gehört zu den Menschenpflichten (die es neben den Menschenrechten auch gibt).

Schon in der Eingangshalle schlägt mir eine Geruchsmischung entgegen, die meine ganze Abneigung konkretisiert: Mottenpulver, Ausscheidungen, Abwaschfetzen. Ich kämpfe mich tapfer in den zweiten Stock, vorbei an Rollstühlen, neugierigen Alten und gelangweilten Besuchern.

"Ich mach' was mit!" klingt nicht nach freudiger Begrüßung. "Diese Weiber im Nebenzimmer lassen mir was anschauen!", geht die Klage der besuchten Seniorin weiter.

Wir wandern in den Aufenthaltsraum und suchen ein nettes Plätzchen in der Sonne: "Da können wir nicht her, da vertreiben sie uns, da ist alles reserviert."
Niemand war da.
"Gehen wir auf die Terrasse?", schlage ich alternativ vor, um weiteres Gezetter zu vermeiden. "Nein, bloß nicht", erzittert die alte Dame, "da würden mich die Schwestern suchen ... oder ich komm' gar zum Tee zu spät."

Wer ist im Altersheim nicht deprimiert, nicht unglücklich? Aber hier weint ein Mensch aus Angst vor den Betreuern und Mitbewohnern und ich befinde mich schlagartig in meinem Berufsalltag.
Hingen nicht bunte Bilder an den Wänden, stünden nicht gefüllte Obstschüsseln in den Gängen und Blumenvasen an den Fenstern, dann würde ich reflexartig zur Kreide greifen und zu diktieren beginnen. Streit, Lärm und schlechte Stimmung bekämpft man mit Beschäftigungstherapie. Voilà, mein Tipp an die Alten.

Und was lerne ich für die Schulen?

Kinder brauchen Raum. Dreißig Kinder stundenlang in einen Klassenraum zu sperren verstößt gegen Menschlichkeit und Vernunft, fördert Aggressionen und Vandalismus. Jugendliche, die sich dagegen wehren, feiere ich insgeheim als Helden! Die Senioren können sich selbstbestimmt zurückziehen, die Kleinen schlucken ihre Emotionen gesichtswahrend hinunter.

Kinder verdienen Ambiente. Warum stehen Blumen, Obst und Fauteuils in Altenheimen, während unsere Kinder stundenlang auf Stahlrohrsessel in grau abblätternden Zellen vegetieren? Um in den Pausen mit Zuckerwasser und Kalorienbomben zwischen "Allways"-Plakaten und "T-Mobile"-Werbung aufgeputscht zu werden!

Was sind die Alten und Jungen unserer Zivilgesellschaft wert?
Die Wirtschaft will ihr Bestes, heißt: ihr Geld. Davon abgesehen, sind diese Menschen ökonomisch wertlos. Weil die Wirtschaft regiert, das Geld bestimmt, die Arbeit zählt, behandlen wir zwei Generationen wie Aussätzige.
Ich schäme mich, verlasse erleichtert Schule und Heim und fahre zum Wochenendeinkauf. Typisch.

 

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