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cotopaxi

 
Der Elternsprechtag naht.
Die LehrerInnen tragen in zentrale Listen ein, mit welchen Eltern sie gerne in Kontakt treten wollen. Die Kinder sehen darin "Vorladungen".

Vor dem Lehrerzimmer stehen zwei Mädchen und lassen mich herausholen.
"Warum haben sie unsere Eltern vorgeladen?"
"Weil ich mit ihnen reden will."
"Aber die Jaqui und der Philipp tratschen doch genauso viel."

Also sie wissen, was mir in den letzten Wochen missfallen hat.

"Wollt ihr es genau wissen?", frage ich.
"Ja!"
"Gut. Denk einmal nach, Sarah. Was hast du auf die letzte Schularbeit geschrieben?"
"Aber ich habe doch gleich eine gute Prüfung gemacht."
"Exakt. Du hast die negative Note gesehen und darauf reagiert. Arbeitest du nur unter Druck?"
"Naja ..."

"Und du, Verena?"
Es stehen ihr Tränen in den Augen. Weil ich mit ihrer Mutter reden will!
"Ja???"
"Wo bist du im Vorjahr gestanden?"
"Zwei ... oder eins?!"
"Und heuer?"
"Vier? ... Aber ich habe mich doch auch zu einer Prüfung gemeldet."
"Mhmm. Und es ist auch besser geworden. Aber ich möchte wissen, wie es zu dieser Verschlechterung gekommen ist."

Sie sehen es - ein bisschen - ein. Trotzdem fragen sie:
"Können Sie uns nicht von der Liste streichen?"
"Ich will doch nur mit euren Eltern reden!"

Das klingt wie eine Bedrohung.

Schau nach bei Hilbert Meyer.

LehramtskandidatInnen, PraktikantInnen, sogar fertige LehrerInnen tun es. H. Meyer ist gut lesbar und fast sowas wie praktisch - also eine Ausnahme in der weiten Landschaft der Universitätsdidaktik.

So kommt mir seine Übersicht zum Thema "Guter Unterricht" in die Hände und ich staune über zwei - zentrale - Ansprüche, die ich in der Realität kaum erkennen kann:

1. LehrerInnen sollen Selbstvertrauen ausstrahlen
2. LehrerInnen brauchen Unternehmergeist

@1)
Ich muss vorausschicken:
Wenn ich in Paris bin, gehe ich zur Sorbonne, in Zürich auf die ETH und in Boston zum MIT. Ich bin ein Uni-Tourist, habe viele hehre Ausbildungsstätten besucht und mag deren jugendlich-intellektuelle Atmosphäre. Manchmal lasse ich Museen oder Kirchen links liegen und gehe an die Uni. Herrlich.
Ich kenne auch einige Universitäten in Österreich: Graz, Salzburg und Wien. Und ich erlebe seltsame Welten: Die Studierenden am Juridicum und an der Wirtschaftsuni sind mit den Kommilitonen an der Hauptuni nicht zu vergleichen. Erstere strahlen schon in jungen Jahren aus, was sie beruflich anstreben: Souveränität. Kritiker nennen es Überheblichkeit. Bei Lehramsstudierenden fehlt mir das. Entweder fühlen sie sich von Geburt an (bzw. ihrer Herkunft) als kleinbürgerliche Staatsdiener oder sie werden von der gesellschaftlichen Umwelt so sozialisiert. Jedenfalls fehlt ihnen oft jenes Selbstbewusstsein, das H.Meyer einfordert und konsequente Erziehung benötigt.

Was tun?

@2)
Lehrer als Unternehmer? Das passt doch gar nicht zusammen. Wäre aber dringend nötig und sollte massiv gefördert werden.

Buch auf. Lesen. Unterstreichen. Das ist öde Schulroutine.
Ein Projekt planen und durchziehen, eine Exkursion organisieren oder einen Filmclub gründen, das sind Unternehmungen, die Spaß machen und zum praktischen Lernen verführen. Dafür braucht es Unternehmergeist, Managementerfahrungen und Motivation.
Das fehlt so sehr wie das Selbstbewusstsein.

Was tun?
Da fe_lt was.

Die Kritik wird spürbar schärfer.

"Ich kenne einen Trick", erklärt eine erfahrene Kollegin in ihrer ersten Klasse und hält das große Dreieck an die Tafel. "Ihr gleitet mit eurem Stift über das Lineal ... und schaut euch dann den Strich an."
Die 10-jährigen Kinder ziehen eine gerade Linie unter die Überschrift. Sie lernen unterstreichen. Die meisten lächeln erhaben, aber einige Kinder staunen Bauklötze, was mit einem Lineal möglich ist: gerade Striche.

"Und jetzt schaut einmal auf euer Lineal", fährt die Kollegin fort. "Was seht ihr darauf?"
Manche finden viele kleine Striche und sind überrascht, dass ihre Mitschüler "Millimeter" dazu sagen.
Die Mathe-Lehrerin bestätigt, was in Deutsch zum Standardvorwurf geworden ist: "Wir bekommen immer mehr Analphabeten aus der Volksschule."

Vier Jahre Grundschule und manche Kinder können kaum lesen und schreiben und verfügen kaum über die einfachsten Grundbedingungen erfolgreichen Lernens.

Ein Mädchen fragt während der ersten schriftlichen Prüfung:
"Frau Lehrer? Wann kommen Sie?"
"Was brauchst Du?"
"Können Sie mir die Fehler verbessern?"
"Ja, schon ... aber das mache ich zuhause."
"Aber meine Volksschullehrerin hat das immer gleich gemacht ..."
Kein Wunder, dass sie alles richtig hatte. Und immer beste Noten. Jetzt, im bösen Gymnasium wird ihr der Spaß am Lernen verdorben.
Eine glückliche Analphabetin wird aus dem Paradies vertrieben.

"Nächste Stunde machen wir eine Wiederholung ... mit Noten", kündigt ein Kollege an.
"Was heißt das?", fragt ein Kind.
"Ihr sollt euch vorbereiten ... zu Hause das Heft anschauen und alles, was wir aufgeschrieben haben noch einmal durchlesen. So lange, bis ihr es selbst erklären könnt."
"Alles auswendig lernen?"
"Naja. Das sind ja nur fünf Seiten ... und ihr müsst es ja nicht wörtlich aufsagen können. Ihr sollt die wichtigen Sachen widergeben können, wenn ich euch frage."

Es gibt Kinder, die sind vier Jahre in eine Grundschule gegangen und haben niemals lernen müssen. Sie wissen gar nicht, was darunter zu verstehen ist bzw. wie das gehen könnte.

Da liegen unglaubliche Lernkapazitäten brach, da werden Talente verschenkt und Chancen vertan. Von GrundschulehrerInnen, die bloß lieb sein wollen.

Deswegen wird die Kritik an der Volksschule immer heftiger. Bei uns im Gymnasium. Sonst ist sie sehr beliebt.

Ich stehe am Gang und überlege: "Muss ich auf 411 oder 412?"
Die Türe zum Klassenraum 411 ist bereits geschlossen, also gehe in die Nachbarklasse, die ich gut kenne:
"Supplieren Sie uns?", fragt jemand sofort.
"Was hättet ihr jetzt laut Stundenplan?", kommt meine Gegenfrage.
"Deutsch."
"Ja, das könnte stimmen ... Ich will mit euch ..."

Theatralische Pause.
Es wird leiser.

"Ich will mit euch LÜGEN lernen."
"Was? Lügen?"
"Ja. Ich gebe euch einen Begriff. Ihr tut so, als würdet ihr ihn kennen ... und sofort erklären können."
"Also wie eine normale Prüfung!"

Ironie haben sie schon gelernt.

"Genau. Erster Begriff: ABGELD. Was ist Abgeld?"
Die Klasse denkt nach.
Die Tür geht auf, die richtige Deutschlehrerin kommt herein und fragt: "Bin ich da falsch?"
"Nein", antworte ich spontan,"du kannst gleich mitmachen."
"Was muss ich tun?"
"Du musst nur lügen."
"Ahhh, ich dachte schon, es könnte was Schwieriges werden ..."
Und sie erklärt mit großen Worten den Begriff Abgeld, von dem sie augenscheinlich keine Ahnung hat.

Zwischenapplaus.
Ich gehe ab.

Die Nachbarklasse ist unbesetzt, sie haben die Türe nur geschlossen, damit sie der Ersatzlehrer, also ich, nicht findet.

Lügen eben.

Lieber Jimmy Wales, bitte, bring es zur Welt: de.tubipedia.com.

"Herr Professor! Kennen Sie die Twins?"
"Welche meinst du?"
"Les twins. Die müssen Sie auf youtube anschauen."
Die tanzbegeisterte Schülerin meint, das sollte jeder kennen.

"Lieber teacher", fängt mich eine Kollegin bei der Tür ab, "schau dir den Tschin Meier an. Einfach genial."
"Wen?"
"C-H-I-N MEYER erklärt die Finanzspekulationen - das interessiert dich sicher. Du findest es auf youtube."
Die aufgeweckte Lehrerin meint, das sollte ich kennen.

"Für morgen suche ich noch einen Bericht über die G 20. Wikipedia? Nein, ich suche ... auf youtube.
Ich meine, das sollten meine SchülerInnen wissen.

YOUTUBE ist die neue, junge Wikipedia. Wissen, Aktualität, Unterhaltung ... alles multimedial. Aber unvollständig, ungeordnet, unkontrolliert. Meine Schüler, meine Kollegen, alle stöbern auf youtube wie in einem Lexikon. Wikipedia ist praktisch tot, für meine Kunden zu elitär, zu textlastig, zu schwierig.

Also Jimbo. Wir brauchen eine mulitmediale Wikipedia, eine Mischung aus youtube und Brockhaus, ein multimediales, junges Nachschlagewerk: Tubipedia.

Bitte, komm zur Welt.

Mal was Neues: Ich habe keine Ahnung.

In den Schulbüchern gibt es "Arbeitsaufträge". Die Schüler lesen, rechnen, zeichnen. Diskutieren, schreiben, simulieren.
In meinen Schüler-Aufzeichnungen gibt es die Rubrik "Mitarbeit". Sie bestimmt ganz wesentlich, welche Note später ins Zeugnis kommt.
In Österreich schreiben Schüler hunderte "Schularbeiten".

Aber ist Lernen wirklich Arbeit?

Ein schreibender Kollege hat vorwurfsvoll in der Presse behauptet: "Die Lehrer bestehen immer noch darauf, dass Lernen etwas Unangenehmes sein muss. Also Leistung und Arbeit." Geht es ohne auch?

Ich erinnere mich zurück. Ich musste Baladen auswendig lernen. Ich musste tausende Beispiele rechnen. Ich musste täglich Vokabel wiederholen. Ich musste Hausübungen schreiben. Heute spreche ich ein paar Fremdsprachen, kann Statistiken fälschen und zwischen Nullleiter und Erdung unterscheiden. Ich finde Jakarta auf der Landkarte, zitiere französische Philosophen und verstehe mehr als den Sportteil der Tageszeitung. Ich habe es arbeitend gelernt.

Kann man auch rein spielend/spielerisch lernen. Sprachen. Mathematik. Naturwissenschaften. Ich gestehe - ich zweifle. Aber ich würde mich tierisch freuen, wenn es funktionierte.

Was glaubt ihr? Müssen Kinder in der Schule und zuhause arbeiten, um zu lernen. Ist das dann Kinderarbeit?

Rauchen ist out. Gesellschaftlich diskreditiert. Fein.

Über Jahre drängten sich Schüler und -innen in unwirtliche Verstecke zwischen Keller und WC, um hinter den Rücken der aufsichtspflichtigen Lehrpersonen ihre Kippen zu paffen. Jahre lang haben wir geredet und gewarnt, verwarnt und geredet. Alles für die Katz', die Jugendlichen haben uns ignoriert und fröhlich weitergeraucht.

Warum?

Es war gesellschaftlich akzeptiert. Rauchen war cool, viele Vorbilder in den Medien und Peergroups taten es und demonstrierten damit Positives zwischen Entspannung und Geselligkeit. Der harte Cowboy und die moderne Emanzipierte rauchten. Die Kinder auch.

Viele Jugendliche rauchen immer noch. In den Pubs der Stadt, bei ihren Parties und diversen Treffen. In der Schule haben wir keine Probleme mehr damit. Keine Klos sind verraucht, keine Gänge angeschwärzt. Der blaue Dunst hat an Attraktivität verloren, nur Unsicherheit und Gewohnheit lassen weiter zum Glimmstengel greifen, das Positive ist verflogen. Geächtet.

Deswegen hoffe ich, dass wir eines Tages auch das Alkoholproblem in den Griff bekommen. Momentan nicht.

Eine Liste liegt in der Klasse:

Wer kommt zur nächsten Party ?
(Namen, geordnet nach Machos und Pussys)?

Und was nehmt ihr mit?
- 1 Palette (Bier muss man nicht dazuschreiben, das weiß jeder)
- Klopfer
- Jägermeister
- Wodka
... NUR Alkohol.

Ich frage: "Könnt ihr euch eine Party ohne Alk vorstellen?"
(Anm.: Alk klingt cooler als Alkohol, yoo!)
Antwort: "Das ist ein Widerspruch in sich, Herr Professor."
"Ein Paradoxon!", ergänzt ein Schlauer.

Alkohol ist cool und akzeptiert. Da kann Schule tun was sie will.

Kollege H. geht beschwingt über den Gang.
"Du schaust ja ziemlich entspannt aus", hänge ich meiner Begrüßung an.
"Gar nicht", erwidert er, "ich falle am Abend totmüde ins Bett ... und bin am nächsten Morgen noch immer komplett fertig."
"Und du schläfst durch?"
"Total. Aber ich stehe wie gerädert auf."

Soweit zu meiner Menschenkenntnis, ich habe mich total geirrt in meiner körpersprachlichen Interpretation.

"Und ich halte keinen Lärm aus", setzt H. fort.
"Naja, wir werden älter."
"Bei mir wird es richtig schlimm, ich drehe schon das Radio ab. In der Früh, im Auto ... ich brauche Ruhe."
Das gibt es in der Schule nicht.
"Da wird dir das nächste Jahr gut tun."

H. hat um ein Sabbatical angesucht - ein unbezahltes Freijahr.
Er braucht es.
Ich überlege auch. Ernsthaft.
Aber die Chancen auf Genehmigung stehen schlecht - es gibt zu wenig Lehrer im Land.

Der 13-jährige Armin ist ein Fliegengewicht in jeder Hinsicht. Zart gebaut und zärtlich erzogen.

Als ich gestern in die Klasse kam, war Armin bereits beim Schularzt. Der wesentlich stärkere und aggressivere Bert hatte mit dem Fuß gegen ihn getreten und seine linke Hand verletzt. Der schmächtige Armin hat es aufgeben, bei den Lehrern Hilfe zu suchen. Er hat schnell gelernt, dass dabei für ihn nichts rausschaut.
"Die reden nur."

Der Schularzt hilft, der tut was. Er untersucht die schmerzende Hand und kühlt sie mit feuchten Umschlägen. Er notiert sich die Daten und informiert den Direktor, notfalls geht auch eine Anzeige zur Polizei. Körperverletzung ist ein Delikt und muss angezeigt werden.

Zehn Minuten später steht die Direktorin in der Tür und lässt die Streitparteien berichten. Sie tadelt den Übeltäter und fordert mich auf, den Vorfall im Klassenbuch zu dokumentieren. Typisch Pädagogen, sie reden und schreiben. Das beeindruckt Bert seit Jahren nicht, er klappt bloß die Ohren zu. Deswegen geht Armin lieber gleich zum Doktor.
"Der tut was."

P.S.: Wenn die Lehrergewerkschaft mehr handfeste Sanktionen ("Strafen") für disziplinlose Schüler fordert und die Ministerin das kategorisch ablehnt, dann denke ich an Armin.

ICH brauche die Strafen nicht, IHN würden sie schützen. ICH könnte etwas TUN, für IHN.

t.o.t steht fett in meinem Terminkalender: Tag der offenen Tür.
Die Schule wechselt zwischen Tourismusprojekt und Marketingkampagne. Alle sollen sich wohlfühlen, das macht die attraktive Schule aus. Sonderangebote wie exotische Auslandsreisen und ungewöhnliche Angebote am Stundenplan würzen die Mischung.

Qualität ist nicht zu sehen. Sieht man nicht.

Die Tür zur Klasse geht auf, einer unserer "Guides" stellt den Besuch vor:
"ER will die 5 A sehen."
ER, das ist ein junger Mann von vielleicht 15 Jahren mit gegeltem Haar und löchrigen Jeans. ER wirft einen gönnerhaften Blick in den Raum und raunt leise zu seinen beiden Freunden: "Pfau, lauter geile Weiber."
"Danke" sage ich höflich, schließe die Türe und wende mich an meine SchülerInnen: "Kennt ihr den?"
"Nein."
"Habt ihr gehört, was er gesagt hat?"
"Ja ..... Stimmt doch .... Ooooder, Herr Professor?"
"Hmmm ... was soll ich jetzt sagen?"

"Geile Weiber" muss ein Kompliment sein, lerne ich. Und ein starkes Argument, in unsere Schule zu kommen.

Qualität sieht man doch.

 

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